sie sind hier: startseite / alle beiträge / Zeit Version II

wut und wutausbrüche

beitrag von: alterlaa

Zeit Version II

Mein Vater ist in der Zeit verlorengegangen. Gestern, heute, morgen bedeuten ihm nichts.
Räumlich ist er gut orientiert. Im Supermarkt kauft er Wurst, Eier, Milch.
Nach Feierabend fahre ich noch zu ihm. Er sieht mir entgegen, hilflose Freude im Gesicht. Trotz Zeitdruck habe ich es geschafft, einzukaufen, worum er mich gebeten hat: Wurst, Eier, Milch. 
Ich öffne seinen Kühlschrank. „Du warst einkaufen!“ Ich knalle die Tasche auf den Boden, die Marmelade scheppert gegen die Milch. „Großartig!“
Sein Gesicht schnellt auf mich zu, der verschwommene Blick verschwunden. Stechende Knopfaugen. Seine Schultern so breit wie früher, sein Rücken gerade. Feste, drohende Stimme: „Du brauchst mich nicht anzufahren!“
Blut schießt in meine Wangen. 
Breit steht mein Vater da, Autorität kann er noch. Er thront auf meinem schmalen Streifen Freiheit zwischen Arbeitstag und Abend, frisst meine Zeit als wäre sie nichts.
Ich sehe weiße Punkte tanzen, mein Blut rauscht. 
Meine Hand krallt sich den Eierkarton, ich höre ein dünnes Knacken, als er im Kühlschrank landet.
Meine Finger quetschen die Knackwurst, bis sie quietscht in ihrer Darmhaut, die feucht platzt. Dresche die Wurst in das Fach neben die Eier.
Als letztes die Milchflasche, sie torkelt im Türfach, kippt fast und fängt sich.
Ich fahre herum, Krieg in meinen Augen.
Mein Vater weicht ängstlich zurück. „Was ist heute für ein Tag?“ Sein Blick verschwimmt wieder.
„Töchtertag!“ Die Kühlschranktür fliegt zu.


review von: Angela Lehner

In Version zwei der Geschichte erleben wir ein langsameres Erzählen. Zwei Wütende werden gegenübergestellt. Der Vater, der das Ausflippen für sich gepachtet zu haben scheint und das erwachsene Kind, dessen Weg zum Wütendsein einer Selbstermächtigung gleicht. 
Diese beiden Perspektiven in so einem kurzen Text zu erzählen und emotional nachvollziehbar zu machen - und dem Ganzen dann auch noch einen runden Abschluss geben zu können, halte ich für bemerkenswert.

Diesmal wurde das Pacing konsequent beibehalten, mit Lupenblick können wir der Erzählung und den Gefühlen folgen. Besonders gelungen sind die Beschreibungen (hilflose Freude) und die Metapher der Lebensmittel über die bishin zur fast umkippenden Milchflasche das Wütendsein abgehandelt wird.

Einziger Fehlgriff ist hier die "Knackwurst quetschen", weil dieses Bild plötzlich einen Moment der Komik evoziert, der deinen sorgsam aufgebauten Wut-Spannungsbogen einknicken lässt. 

Notiz am Rande auch hier: Possesivpronomina - nur selten wirklich notwendig.

Ich finde alles an diese Abgabe gelungen und möchte dich ermutigen, etwas Längeres aus diesem Text zu machen. Erstmal könnte das eine Kurzgeschichte sein, von der du hier einen Ausschnitt einreichst. Du könntest aber auch mal spielerisch überlegen, was in einem Roman passieren könnte, der mit dieser Szene beginnt.
Karin Leroch sagt
04.10.2024 18:19
Vielen Dank für den ausführlichen Review!