Wenn du groß bist, hatte sie gesagt, wird die Welt eine andere sein, als die, in der ich aufgewachsen bin. „Wir hatten Krieg und wir waren dumm, wir glaubten an den Sieg und die Überlegenheit, wir hatten unser Hirn ausgeschaltet und liefen einem Rattenfänger nach, der Deutschland versprach wieder eine Weltmacht zu werden. Und man sagte uns doch, wir wären Deutsche. Aber heute, mein Schatz, sind die dunklen Zeiten vorbei und die Menschheit ist klüger geworden.“
Sie starb in dem Jahr als der große Blonde mit der orangenen Hautfarbe zum zweiten Mal zum Präsidenten der größten westlichen Weltmacht gewählt wurde. Zwei Jahre, nachdem ein russischer Ex-KGB Agent einen Nachbarstaat zum zweiten Mal überfallen hatte um ein noch größeres Territorium zu besetzen als bei dem Einmarsch ein paar Jahre davor. Ein Jahr nach einem Terrorüberfall ungeahnten Ausmaßes und unfassbarer Brutalität mit Tausenden Toten und Verletzten, der mit Zehntausenden Toten auf der anderen Seite gerächt wurde.
Als das erste Flugzeug in den ersten der beiden Twin Towers flog rief sie mich an und erzählte mir von diesem schrecklichen Unfall, den sie in den Nachrichten gesehen hätte und was für ein schrecklicher Zufall, dass ausgerechnet ein Flugzeug in so ein großes Haus …. Nach dem zweiten Einschlag rief ich sie zurück. Ich wollte mit jemandem über das Unfassbare sprechen, aber sie sagte, sie könne jetzt nicht reden. Später vielleicht….
Aber später kam nicht mehr. Nicht nach den Anschlägen von Bali und Madrid, nicht nach den Anschlägen von London und Brüssel, nicht nach den Überfällen bei Charlie Hebdo oder im Bataclan und auch nicht nach dem Massaker in der Crocus City Hall am anderen Ende der Welt.
Das Später kam nie und sie wurde im Lauf der Jahre immer stiller. Zuerst fehlten ihr die Worte und dann verlor sie sie. Nur manchmal, beim Betrachten alter Familienfotos erahnte ich noch ihre frühere Zuversicht und wünschte mir, dass das Zucken um ihren Mund vielleicht ein Lächeln sein könnte.
„Erinnert ihr euch noch“ fragte ich dann meine Kinder, „wie eure Oma mit euch verstecken gespielt hat als ihr klein wart, und wie wir alle gemeinsam Kirschen- und Apfelkuchen mit den Früchten aus ihrem Garten gebacken haben?“. Aber meine Kinder erinnerten sich nicht.
Nicht an die Spieleabende mit Schnipp-Schnapp und UNO, nicht an die Gute-Nachtgeschichten ihrer Oma, die sie aus dem Stegreif erfand, wenn man ihr nur drei Worte zurief, wie „Hase“, „Grube“ und „Mond“. Nicht an das gemeinsame Lachen und wie unzertrennlich die beiden Brüder waren.
Mein Sohn Luca engagiert sich heute bei Free Gaza, der andere, Felix, leistet seinen Zivildienst in Yad Vashem. Worte haben sie viele, aber Worte reichen nicht mehr aus für ein Gespräch. Ich liebe sie beide – was sonst bleibt mir übrig.
review von: alfred goubran
Dieser Text ist in mehrerlei Hinsicht exemplarisch; einerseits zeigt er die Enttäuschung einer Generation, die nach dem Krieg an eine bessere Zukunft – nicht nur in wirtschaftlichen Belangen – glaubte, andererseits schildert er die, im Gleichschritt mit den Enttäuschungen, fortschreitende Sprachlosigkeit, das Verstummen – beim Einzelnen wie bei den nachfolgenden Generationen. Dann dieser starke Satz: „Worte haben sie viele, aber Worte reichen nicht mehr aus für ein Gespräch.“
Den letzten Satz hingegen finde ich nicht so gelungen. Ich denke der Text würde nichts an seiner Qualität verlieren, wenn man ihn wegläßt (oder ersetzt).