Falsche Prophezeiung
Wir sehen von links nach rechts, so wie wir lesen.
Die Schautafeln, die uns das Sehen lehren, zeigen links im Bild einen Baum – keine Buche, keine Tanne, keinen Apfelbaum, nur einen Baum. Von ihm fällt keine Frucht, und darunter sitzt kein Paar, das sich küsst. Niemand hebt Ingrid Marie auf, um sie mit nach Hause zu nehmen.
Zwei Linien führen nach rechts: von dem Baum zu einem Kopf im Profil ohne Körper. Sie treffen sich dort, wo der Augapfel sitzt. (Die ersten Augen waren Tropfen. In ihnen brach sich das Licht. Dahin zog es den Körper.) Dort, wo man das Gehirn vermutet, zeigt die Tafel einen zweiten Baum – manchmal kopfüber, sodass seine Wurzeln in den Himmel ragen.
Diese Modelle sind falsch, das wissen wir heute.
An ihre Stelle ist die Theorie des kontrollierten Träumens getreten – predictive coding. Nur die Reize der Sinne halten unsere Träume am Tag im Zaum. In ihnen hat die Wirklichkeit das Sagen. Jede Prophezeiung wird von ihr kontrolliert. Stimmen Vorhersage und Reiz nicht überein, richtet sich der Traum neu aus.
Ich stelle die neue Theorie auf die Probe, öffne meine Augen – und sehe: Du bist nicht da.
review von: alfred goubran
Das sind jetzt viele Behauptungen, die ich nicht ad hoc verifizieren konnte. Könnten Sie mir ein paar Quellen nennen, was „Predictive coding“ mit kontrolliertem Träumen oder Prophezeiungen zu tun hat? – Nach meinem Verständnis, scheint es sich dabei um Vorstellungen über die Außenwelt zu handeln (mental model), die auf Basis der Sinneswahrnehmungen ständig aktualisiert werden (Ein Prozeß à la Handkes Satz: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt). Ich würde hier jedoch zwischen Prognose (Vorhersage) und Prophezeiung, sowie zwischen Traum und „mental model“ (Vorstellung) unterscheiden.
kommentare
Jörn Budesheim
17.10.2025 08:33
Hier zwei Quellen:
Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn:
"Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen» auf und mache daraus im Gehirn eine Art Foto. Heute wissen wir es besser. Unser Bild der Welt ist keine Fotografie.
[...]
Ihr Gehirn kombiniert Informationen von außerhalb und innerhalb Ihres Kopfes und schafft daraus alles, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken und durch Berührung erfahren.
[...]
Im wahrsten Sinne des Wortes sind Vorhersagen quasi Selbstgespräche Ihres Gehirns. Eine Gruppe Neuronen schätzt ab, was in unmittelbarer Zukunft passieren wird, und zwar aufgrund der Kombination aus Vergangenheit und Zukunft, die Ihr Gehirn heraufbeschwört.
[...]
Während Ihr Gehirn Vorhersagen trifft, überprüft es sie anhand der Sinnesdaten, die es aus der Außenwelt beziehungsweise aus dem Körper bekommt. Was jedoch als Nächstes passiert, verblüfft mich immer noch, selbst als Neurowissenschaftlerin. Falls Ihr Gehirn eine gute Vorhersage getroffen hat, feuern Ihre Neuronen bereits in einem Aktivitätsmuster, das zu den eintreffenden Sinnesdaten passt."
-------------
Von dem Neurowissenschaftler Anil Seth findet man auf YouTube Videos mit Titeln wie „Dein Gehirn halluziniert deine bewusste Wirklichkeit“ oder „Dein Gehirn ist eine Vorhersagemaschine“. In einem Video sprach er von „kontrollierten Halluzinationen“.
Diese Formulierung hat mir gefallen. Ich hab' mich für eine andere Metapher entschieden und spreche stattdessen von „kontrollierten Träumen“.
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"(Die ersten Augen waren Tropfen. In ihnen brach sich das Licht. Dahin zog es den Körper.)" Das ist zwar keine freie Erfindung, jedoch nur mit etwas gutem Willen wahr. Ich nutze gerne (in Texten und Zeichnungen) Dinge, die ich zwar recherchiere, dann aber sehr frei "modelliere". Ich bin etwas überrascht, dass nach dem Wahrheitsgehalt gefragt wird … aber gut zu wissen.
Die Pointe des Textes - so hatte ich es zumindest gehofft - soll ja der letzte Satz sein: "Ich stelle die neue Theorie auf die Probe, öffne meine Augen – und sehe: Du bist nicht da." Aber das ist anscheinend nicht gelungen. Was tun?
alfred goubran
17.10.2025 11:03
Der zitierte Stelle: "Die ersten Augen …" ist wunderschön und sehr poetisch. Die Pointe des Textes ist durchaus gelungen (in dem Sinne, daß die Wahrnehmung die Vorstellung korrigiert). – Was das andere betrifft, so ging es mir nicht um "Wahrheit", sondern um Quellen … also das Herkommen hat mich interessiert. Im Grunde ist es ja eine Binsenweisheit, daß wir unser Weltbild ständig evaluieren; nicht nur mit den Sinnen, auch durch Informationen, das ist gewissermaßen dem Terrain geschuldet, das sich ständig verändert. Die vorgestellte und die wirkliche Welt können nie deckungsgleich sein, da die Welt immer mehr als die Vorstellung ist, die Vorstellung die Wirklichkeit in ihrer Gänze nicht fassen kann. Doch hier von Halluzinationen zu sprechen, wo es sich nur um (Fehl-)Interpretationen handelt, halte ich für etwas weit hergeholt. Eine Wettervorhersage ist weder eine Prophezeiung noch eine Halluzination. Die Aussage: "Jede Prophezeiung wird von ihr (i.e. der Wirklichkeit) kontrolliert" halte ich für falsch. Denn die Wirklichkeit kontrolliert nichts. Über "kontrolliertes Träumen" bin ich gestolpert, da es den Begriff des "aktiven Träumens" gibt. Was tun? – Ich hatte nur Probleme mit dem vorletzten Absatz, mit der Beschreibung der Theorie des "predictive coding". Vielleicht wäre hier der Konjunktiv hilfreich … oder "eine Theorie, die besagt …".
Hier zwei Quellen:
Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn:
"Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen» auf und mache daraus im Gehirn eine Art Foto. Heute wissen wir es besser. Unser Bild der Welt ist keine Fotografie.
[...]
Ihr Gehirn kombiniert Informationen von außerhalb und innerhalb Ihres Kopfes und schafft daraus alles, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken und durch Berührung erfahren.
[...]
Im wahrsten Sinne des Wortes sind Vorhersagen quasi Selbstgespräche Ihres Gehirns. Eine Gruppe Neuronen schätzt ab, was in unmittelbarer Zukunft passieren wird, und zwar aufgrund der Kombination aus Vergangenheit und Zukunft, die Ihr Gehirn heraufbeschwört.
[...]
Während Ihr Gehirn Vorhersagen trifft, überprüft es sie anhand der Sinnesdaten, die es aus der Außenwelt beziehungsweise aus dem Körper bekommt. Was jedoch als Nächstes passiert, verblüfft mich immer noch, selbst als Neurowissenschaftlerin. Falls Ihr Gehirn eine gute Vorhersage getroffen hat, feuern Ihre Neuronen bereits in einem Aktivitätsmuster, das zu den eintreffenden Sinnesdaten passt."
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Von dem Neurowissenschaftler Anil Seth findet man auf YouTube Videos mit Titeln wie „Dein Gehirn halluziniert deine bewusste Wirklichkeit“ oder „Dein Gehirn ist eine Vorhersagemaschine“. In einem Video sprach er von „kontrollierten Halluzinationen“.
Diese Formulierung hat mir gefallen. Ich hab' mich für eine andere Metapher entschieden und spreche stattdessen von „kontrollierten Träumen“.
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"(Die ersten Augen waren Tropfen. In ihnen brach sich das Licht. Dahin zog es den Körper.)" Das ist zwar keine freie Erfindung, jedoch nur mit etwas gutem Willen wahr. Ich nutze gerne (in Texten und Zeichnungen) Dinge, die ich zwar recherchiere, dann aber sehr frei "modelliere". Ich bin etwas überrascht, dass nach dem Wahrheitsgehalt gefragt wird … aber gut zu wissen.
Die Pointe des Textes - so hatte ich es zumindest gehofft - soll ja der letzte Satz sein: "Ich stelle die neue Theorie auf die Probe, öffne meine Augen – und sehe: Du bist nicht da." Aber das ist anscheinend nicht gelungen. Was tun?