an der haltestelle wartete niemand.
das schild mit dem grünen h stand schief.
ein zettel trieb im wind, blieb an der bank hängen.
auf dem zettel stand: „morgen kommt das ende.“
sie las ihn nicht.
sie setzte sich auf die bank.
die großmutter lag im schnee und duftete nach pflaumenkuchen.
ein feiner dampf stieg von ihr auf,
wie aus einem geöffneten glas kompott.
in ihrem haar klebten blüten – oder waren es eissterne?
ein vogel setzte sich auf ihre schulter und sprach:
„noch einen tag.“
doch der tag kam nicht.
die himmelsuhr stand still.
der schnee leuchtete von unten,
und irgendwo hinterm wäldchen lachte ein fuchs,
zu früh, zu laut, als wüsste er etwas.
die enkelin zog die schuhe aus.
der schnee schmolz nicht unter ihren füßen.
sie ging los, dorthin, wo das weiß sich öffnete.
dorthin, wo man keinen namen mehr braucht.
ein reh trat aus dem wäldchen, blieb stehen,
senkte den kopf und sprach:
„du bist zu spät.“
sie nickte.
die worte lagen schwer in ihr,
wie münzen, die man einem toten auf die augen legt.
da erhob sich der wind,
und mit ihm hob sich die großmutter.
langsam.
der schnee blieb unberührt.
ein dunkler schatten spannte sich unter ihr auf,
mit flügeln aus seidenem stoff.
die enkelin stand auf.
es knackte unter ihren füßen – kein ast,
sondern ein kleiner spiegel.
darin sah sie das alte haus.
die tür stand offen,
die stufen waren aus brot,
und eine gestalt wartete dort.
ein lila könig mit einem zepter aus tintenfischbein
und einem umhang aus zerknitterten wetterkarten.
„du bist also die enkelin,“ sagte er.
sie schwieg.
der könig neigte den kopf,
als lausche er einer entfernten anweisung.
dann sagte er leise:
„vielleicht warst du es,
die kommen sollte.“
sie trat näher.
hinter ihr begann der wald zu glimmen,
violett, wie von innen beleuchtet.
der könig schloss die augen.
über ihnen schneite es weiter,
ruhig, beharrlich,
als wäre nichts entschieden.
review von: alfred goubran
Ein Ausflug ins Märchenhafte. Eine Mädchen/eine Frau (die Enkelin) setzt sich auf die Bank an einer Haltestelle, dann mischen sich Erinnerung und märchenhafte Bilder, sie kehrt in „das alte haus“ zurück, wo ein König sie erwartet, der offenbar auf jemand anderen gewartet hat. Doch vielleicht – er ist sich nicht sicher – „warst du es,/die kommen sollte.“ Er schließt die Augen „über ihnen schneite es weiter, (…) als wäre nichts entschieden."
Es ist diese scheinbare Unentschiedenheit, die das Wesen des Textes ausmacht. Die Grenzen zwischen Erinnerung, Halluzination, Traumgesicht sind nicht festzuschreiben. Der Schnee jedoch – Sinnbild des Elementaren – bleibt unberührt, schmilzt (wie sie verwundert feststellt?) nicht unter ihren Füßen - warum sollte er? Auch der Wald bleibt Wald, auch wenn er zu glimmen beginnt, „wie von innen beleuchtet“.
Man könnte diesen Text auch als psychotischen Schub eines Mädchens/einer Frau lesen, die im Winter auf der Bank an einer Haltestelle sitzt (dann wird es etwas unheimlich).
Hier noch ein paar Anmerkungen:
In Strophe 5 zieht die Enkelin die Schuhe aus und geht los … - in Strophe 10 „die enkelin stand auf“.
2. Strophe: „ein feiner dampf“ – dunst?
Drittletzte Strophe: „als lauschte er einer entfernten anweisung“ – „einer entfernten anweisung“ könnte man weglassen.
Letzte Strophe: „schneite es weiter“ – könnte man „weiter“ weglassen.
kommentare
Stephan Flommersfeld
22.10.2025 07:49
vielen dank für den ausführlichen review! soll ich die geänderte fassung nochmal in einem neuen beitrag absetzen? großmutter
an der haltestelle wartete niemand. das schild mit dem grünen h stand schief. ein zettel trieb im wind, blieb an der bank hängen. darauf stand: „morgen kommt das ende.“ sie las ihn nicht.
sie setzte sich auf die bank. die großmutter lag im schnee und duftete nach pflaumenkuchen. ein feiner dunst stieg von ihr auf, wie aus einem geöffneten glas kompott.
in ihrem haar klebten blüten – oder waren es eissterne? ein vogel setzte sich auf ihre schulter und sprach: „noch einen tag.“ doch der tag kam nicht.
die himmelsuhr stand still. der schnee leuchtete von unten, und irgendwo hinterm wäldchen lachte ein fuchs, zu früh, zu laut, als wüsste er etwas.
die enkelin zog die schuhe aus. der schnee schmolz nicht unter ihren füßen. sie ging los, dorthin, wo das weiß sich öffnete, wo man keinen namen mehr braucht.
ein reh trat aus dem wäldchen, blieb stehen, senkte den kopf und sprach: „du bist zu spät.“
sie nickte. die worte lagen schwer auf ihr, wie münzen auf den augen eines toten.
da erhob sich der wind, und mit ihm hob sich die großmutter. langsam. der schnee blieb unberührt.
ein dunkler schatten spannte sich unter ihr auf, mit flügeln aus seidenem stoff.
sie trat vorsichtig zurück. unter ihren füßen knackte etwas – kein ast, sondern ein kleiner spiegel.
darin sah sie das alte haus. die tür stand offen, die stufen waren aus brot, und eine gestalt wartete dort.
ein lila könig mit einem zepter aus tintenfischbein und einem umhang aus zerknitterten wetterkarten. „du bist also die enkelin,“ sagte er. sie schwieg.
der könig neigte lauschend den kopf, dann sagte er leise: „vielleicht warst du es, die kommen sollte.“
sie trat näher. hinter ihr begann der wald zu glimmen, violett, wie von innen beleuchtet.
der könig schloss die augen. über ihnen schneite es, ruhig, beharrlich, als wäre nichts entschieden.
alfred goubran
22.10.2025 13:23
Wenn Sie wollen, gern. Ist dann leichter zu lesen. Einfach Version 2 an den Titel anhängen, wie es die anderen gemacht haben.
vielen dank für den ausführlichen review!
soll ich die geänderte fassung nochmal in einem neuen beitrag absetzen?
großmutter
an der haltestelle wartete niemand.
das schild mit dem grünen h stand schief.
ein zettel trieb im wind, blieb an der bank hängen.
darauf stand: „morgen kommt das ende.“
sie las ihn nicht.
sie setzte sich auf die bank.
die großmutter lag im schnee und duftete nach pflaumenkuchen.
ein feiner dunst stieg von ihr auf,
wie aus einem geöffneten glas kompott.
in ihrem haar klebten blüten – oder waren es eissterne?
ein vogel setzte sich auf ihre schulter und sprach:
„noch einen tag.“
doch der tag kam nicht.
die himmelsuhr stand still.
der schnee leuchtete von unten,
und irgendwo hinterm wäldchen lachte ein fuchs,
zu früh, zu laut, als wüsste er etwas.
die enkelin zog die schuhe aus.
der schnee schmolz nicht unter ihren füßen.
sie ging los, dorthin, wo das weiß sich öffnete,
wo man keinen namen mehr braucht.
ein reh trat aus dem wäldchen, blieb stehen,
senkte den kopf und sprach:
„du bist zu spät.“
sie nickte.
die worte lagen schwer auf ihr,
wie münzen auf den augen eines toten.
da erhob sich der wind,
und mit ihm hob sich die großmutter.
langsam.
der schnee blieb unberührt.
ein dunkler schatten spannte sich unter ihr auf,
mit flügeln aus seidenem stoff.
sie trat vorsichtig zurück.
unter ihren füßen knackte etwas – kein ast,
sondern ein kleiner spiegel.
darin sah sie das alte haus.
die tür stand offen,
die stufen waren aus brot,
und eine gestalt wartete dort.
ein lila könig mit einem zepter aus tintenfischbein
und einem umhang aus zerknitterten wetterkarten.
„du bist also die enkelin,“ sagte er.
sie schwieg.
der könig neigte lauschend den kopf,
dann sagte er leise:
„vielleicht warst du es,
die kommen sollte.“
sie trat näher.
hinter ihr begann der wald zu glimmen,
violett, wie von innen beleuchtet.
der könig schloss die augen.
über ihnen schneite es,
ruhig, beharrlich,
als wäre nichts entschieden.