alfred goubran
großmutter (version 2) - falsche prophezeiungen

alfred goubran (aut) großmutter (version 2)

beitrag von: sflommersfeld

großmutter (version 2)

großmutter

an der haltestelle wartete niemand.
das schild mit dem grünen h stand schief.
ein zettel trieb im wind, blieb an der bank hängen.
darauf stand: „morgen kommt das ende.“
sie las ihn nicht.

sie setzte sich auf die bank.
die großmutter lag im schnee und duftete nach pflaumenkuchen.
ein feiner dunst stieg von ihr auf,
wie aus einem geöffneten glas kompott.

in ihrem haar klebten blüten – oder waren es eissterne?
ein vogel setzte sich auf ihre schulter und sprach:
„noch einen tag.“
doch der tag kam nicht.

die himmelsuhr stand still.
der schnee leuchtete von unten,
und irgendwo hinterm wäldchen lachte ein fuchs,
zu früh, zu laut, als wüsste er etwas.

die enkelin zog die schuhe aus.
der schnee schmolz nicht unter ihren füßen.
sie ging los, dorthin, wo das weiß sich öffnete,
wo man keinen namen mehr braucht.

ein reh trat aus dem wäldchen, blieb stehen,
senkte den kopf und sprach:
„du bist zu spät.“

sie nickte.
die worte lagen schwer auf ihr,
wie münzen auf den augen eines toten.

da erhob sich der wind,
und mit ihm hob sich die großmutter.
langsam.
der schnee blieb unberührt.

ein dunkler schatten spannte sich unter ihr auf,
mit flügeln aus seidenem stoff.

sie trat vorsichtig zurück.
unter ihren füßen knackte etwas – kein ast,
sondern ein kleiner spiegel.

darin sah sie das alte haus.
die tür stand offen,
die stufen waren aus brot,
und eine gestalt wartete dort.

ein lila könig mit einem zepter aus tintenfischbein
und einem umhang aus zerknitterten wetterkarten.
„du bist also die enkelin,“ sagte er.
sie schwieg.

der könig neigte den kopf,
als lausche er.
dann sagte er leise:
„vielleicht warst du es,
die kommen sollte.“

sie trat näher.
hinter ihr begann der wald zu glimmen,
violett, wie von innen beleuchtet.

der könig schloss die augen.
über ihnen schneite es,
ruhig, beharrlich,
als wäre nichts entschieden.

review von: alfred goubran

Freut mich, daß meine Anregungen gut angenommen wurden.