alfred goubran
Scheherazade - falsche prophezeiungen

alfred goubran (aut) Scheherazade

beitrag von: nhimmelsbach

Scheherazade

"Jedes Wort, das man über die Zukunft sagt, ist wahr, jedenfalls für eine Weile." Ihre Stimme klang müde, die linke Hand umspielte träge das frisch aufgefüllte Wasserglas. "Eben weil die Zukunft noch nicht eingetreten ist, darf man sie sich grad so vorstellen, wie man sie gerne hätte. Da ist von der Seite der Logik her überhaupt nichts Falsches dran. Das Zukünftige existiert noch nicht, und erst, wenn es sich ereignet, bestätigt sich die Vorhersage oder wird widerlegt. Vorher ist es unmöglich, eine dem Beweis zugängliche Aussage über die Zukunft zu treffen, weil ja noch gar nichts existiert, das sich beweisen ließe, und wo sich eine Aussage weder widerlegen noch beweisen lässt, ist sie bis zum Beweis des Gegenteils eine logisch gültige Annahme. Quasi Unschuldsvermutung." Sie sprach langsam und konzentriert, nur minimal verwaschen, was angesichts der Dosis, die sie bereits intus hatte, durchaus bemerkenswert war. "Kann also gut sein, dass sich die Zukunft dieser Nacht anders als gedacht erweist.  Zum Beispiel so: Du überlegst es dir anders, wir reden noch ein bisschen, dann schlafe ich hier vielleicht am Tisch ein, und bevor du gehst, legst du mir eine Decke um die Schultern oder dein Jackett, und du nimmst die Schachteln wieder mit, und ich schlafe die Nacht durch und den nächsten Tag und vielleicht noch eine Nacht, und wenn ich dann aufwache in dieser Zukunft, Mittwoch Nachmittag vielleicht, habe ich Kopfschmerzen und die Erinnerung an diese wirren Träume, in deren Fäden ich festhänge und mich verliere. Vermutlich komme ich dann zu dem Schluss, dass ich plötzlich krank geworden bin, Corona oder so, Stress und Überarbeitung, dann noch diese dumme Sache mit Marcel und Valerie, kein Wunder, dass das ein bisschen viel war, werde ich denken, wird jeder denken, dass das jetzt einfach etwas viel.." Ich unterbrach sie mit einem Wink des Pistolenlaufs zwischen uns, damit sie ihre nächste Medizin nahm, immer nur vier Tabletten, hatte Marcel mir geraten, sonst kommt es zu plötzlicher Übelkeit oder Erbrechen. Ihre Hand zitterte jetzt leicht. Um den Mund zeigte sich der Schatten einer Anspannung, das Schlucken fiel ihr schwerer. Ihre Stimme gefiel mir, tiefer als vorhin, leiser, intensiver,  dem Geheimnis letzter Dinge nah. Jetzt bloß keine Hektik hineinbringen, dachte ich, schadet ja nicht, mach ich's ihr ein bisschen leichter, schob die nächste Packung über den Tisch und sagte freundlich: "Good point, das mit der Zukunft, wenn du mich fragst. Wo hast du das wieder aufgeschnappt? Mit der Zukunft kann man sich nie sicher sein. Nicht mal bei der Gegenwart. Aber erzähl ruhig weiter."

review von: alfred goubran

Ja, da redet jemand um sein Leben. Gut und souverän erzählt. Spannend.
Anmerkungen:
"mit einem Wink des Pistolenlaufs zwischen uns" - das „zwischen uns“ könnte man weglassen;
"Ihre Stimme gefiel mir, tiefer als vorhin, leiser, intensiver,  dem Geheimnis letzter Dinge nah." – Bei diesem Satz irritiert mich das „vorhin“ und der Nebensatz „dem Geheimnis letzter Dinge nah“, der ein wenig aufgesetzt klingt und auch nicht zur Sprache der Protagonistin (am Ende des Textes) paßt.

kommentare

Natalie Himmelsbach
28.10.2025 12:24

Vielen Dank für Ihr wertschätzendes und sehr aufmerksames Lesen!
Mit dem Pistolenlauf, da bin ich nicht ganz sicher, ich wollte das Bild verstärken, dass da zwei einander gegenüber am Tisch sitzen, aber stimmt, ist vielleicht so schon ausreichend klar, die andere Passage sollte auf einen nicht dargestelkten Augenblick am Anfang des Abends verweisen, den ich mir aufgeregt, emotional, überrascht, verängstigt, fassungslos usw. denke, wenn das aber verwirrt, lasse ich es lieber weg. Der Hinweis auf die letzten Dinge, das ist gut gespürt, die Stelle habe ich nachträglich eingefügt, und sie passt zur Sprechweise der Pistolenperson nicht, da wollte ich vielleicht zuviel hineinbringen und hatte für einen Augenblick eine andere Person im Kopf, zu der der Satz gut gepasst hätte - ich nehme hier für mich mit, gut darauf zu achten, wie die Persönlichkeit einer Figur angelegt ist und nicht zu viele Facetten und Brüche usw. hinzutun zu wollen, nur weil sich plötzlich ein Aspekt nach vorne drängelt, dem die Person meiner Meinung nach nicht gerecht wird, vielen Dank!

alfred goubran
28.10.2025 23:05

Gern geschehen. Wünsche Gutes Gelingen beim weiteren Schreiben!

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