beitrag von: TseTse
Die 120 Sekunden von Betlehem
weihnachten mit de sade
Der 120 Sekunden erster Teil, worin das Firmament ein mattes Zucken zeigt und ein paar vornehme Herren entladen
An jenem Abend streifte, wie die Bestimmung es verlangte, ein Stern mit schlaffem Schweif ein Stalldach, „um euch etwas zu zeigen, das ihr noch nie gesehen habt“, wie es der bildhübsche Engel in der vorherigen Nacht verkündet hatte. Vor der Hütte mächtig Holz, war es drinnen bitter kalt, und nur struppiges Stroh verschloss die zugigen Öffnungen. Unbeschreibliches hatte sich hier zwischen einer Jungfrau, einem Neugeborenen und einem Zimmermann abgespielt. Angelockt von den Berichten über vergnügliche Ereignisse eilten vier der vornehmsten Herren der Umgebung herbei und gaben vielleicht ihr Bestes.
Der 120 Sekunden zweiter Teil, in dem jede Autorität ihre eigene Höllenblüte treibt
Der angereiste Astronom verkündete, der Stern sei ein himmlischer Spiegel, der einzig dazu geschaffen wurde, seine intellektuelle Pracht – denn körperlich war er seinen Begleitern um Längen unterlegen – zurückzuwerfen. Dennoch ergötzte er sich an dem kleinen Ding: „Die schönste Haut, das angenehmste Embonpoint und trotzdem die geschmeidigste und interessanteste Gestalt.“
Der Moralphilosoph erklärte, wahre Reinheit beginne mit ihrer sofortigen Abschaffung, denn „nichts ist gefährlicher als ein unsortierter Charakter, besonders wenn er erst wenige Minuten alt ist“.
Der Schatzmeister trug Josef auf, seinen Zimmermannshammer als unverbrüchliches Zeichen des Glaubens an die gerechte Sache zu schwingen – was dieser arglos beherzigte –, und entlohnte ihn dafür mit einigen Goldstücken.
Sein Beisitzer nahm sich des kleinen Wurms in der Krippe an und sah hier die Chance, Spiritualität kommerziell zu nutzen; er erwog bereits Pauschaltarife für Engel und Staffelpreise für Wunder. Insgeheim aber hielt er diese Geburt für „eine unbelegte Fußnote im großen Dokument menschlicher Übertreibung“.
Der 120 Sekunden dritter Teil, da die Herren ihre persönliche Verdorbenheit als kosmische Ordnung ausgeben
Die Vier scharten sich um die Crèche wie konkurrierende Seuchen der Interpretation. Der Astronom fuchtelte mit Himmelsgesetzen, die er im Rausche seiner Selbstverehrung erfunden hatte; der Moralist schleuderte Paragraphen wie mit Tannennadeln gespickte Lederriemen durch die Luft; der Schatzmeister klimperte in seinen Taschen, als wolle er die Stille bestechen; der Beisitzer sah ein „Kind von fraglicher Bedeutung, potenziell überschätzt.“
Es erhitzten sich die Reden über verschiedene Sittenprobleme, und ich überlasse es dem Leser, zu beurteilen, ob die Moral davon sehr lauter war. Der Beisitzer hielt eine Lobrede auf die Ausschweifung und bewies, dass sie in der Natur begründet sei, und dass dieser umso besser gedient sei, je vielfacher die Verirrungen jener wären. Seine Meinung wurde allgemein anerkannt und applaudiert, und man erhob sich, um das Prinzip, das man eben aufgestellt hatte, in die Praxis zu übersetzen. Jeder suchte im Antlitz des Kindes eine glänzende Fläche, in der er sich selbst bewundern konnte; und da sie es nicht fanden, überlegten sie, ob man das Wunder nicht zurechtpolieren müsse, bis es tat, was man von Wundern eben erwartete: anderen dienen, ihnen aber nützen.
Der 120 Sekunden vierter Teil, welcher vollendet vom Mord kündet aber unvollendet bleiben muss
Da die Zeit wie ein letzter Funke im Stall zu verglimmen drohte, drängte ein Engel die Anwesenden zur eiligen Flucht: Herodes sei ein Anwärter auf den Thron ein Dorn im Auge (desgleichen im Arsch hätte ihm wohl Freude bereitet), weshalb er alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren in Bethlehem und der ganzen Umgebung töten lassen wollte. Maria jammerte sehr über die Ungerechtigkeit dieser Behandlung. „Wenn es gerecht wäre,“ sagte der Schatzmeister, „würde es uns keine Wollust erregen.“
Maria senkte die Stimme, Josef den Blick, die Engel ihre Erwartungen.
„Was für ein Loch“, entfuhr es wie ein blasser Furz dem Moralphilosophen, als er sich noch einmal nach der Hütte umschaute ...
review von: michael ziegelwagner
Tsetse packt's: Die erste Einreichung, die sich an eine Vorgabe hält, und dann noch an die Hauptvorgabe! Und sie legt die Latte beeindruckend hoch: Lüstern-erotische Anspielungen hat's in jeder Zeile dieser Kürzestkapitel, der Text strotzt vor Doppelbedeutungen (die Krippe ist "ein Loch", die Eingänge sind mit struppigem Stroh bedeckt wie Genitalien mit Schamhaar, der Schweif des Sterns von Betlehem wird als "schlaff" verhöhnt, das Überbringen von Geschenken ist ein "Entladen"). Der Satzbau ist dem manisch-repetitiven Duktus de Sades nachgebildet, der endlos Ereignisse und Vorgänge reiht und kombiniert. Aber auch freiere Stilfiguren hat unser pfiffiger Parodist im Repertoire ("Maria senkte die Stimme, Josef den Blick, die Engel ihre Erwartungen" – ein Zeugma, wie es uns auch bei Albert Drach begegnet, einem kalten Literaturprotokollanten suo iure, aber nicht von ungefähr auch Porträtist des "göttlichen Marquis"). Zynismus herrscht, es wird vorbildlich philosophiert, ein (Massen-)Mord wird vorbereitet; zu richtigen geschlechtlichen Handlungen kommt es indes nicht, was man dem Text anrechnen soll: Wäre es überhaupt möglich, de Sade zu übertreiben? So ist der "blasse Furz" am Ende weniger eine satirische Überhöhung, die notwendig misslingen müsste, als ein fernes, humorvolles Echo der beim Vorbild andauernd und bis zur Ermüdung geschilderten Körpersäfte und -produkte.
Wie wir es aus Tsetses anderen Stücken gewohnt sind, wird die Frage nach Sinn und Moral des Ganzen elegant zurückgewiesen ("Seuchen der Interpretation").
Zart geißeln darf ich zwei Petitessen: "Seine Meinung wurde allgemein anerkannt und applaudiert" – da stimmt der grammatische Bezug nicht. Und wo "desgleichen" steht, ist "dergleichen" gemeint (ersteres heißt "ebenfalls, ebenso").
Fragen an den Text: Warum sind es vier Könige statt drei? Welche Funktion haben ihre Berufe? Was bedeutet es, wenn Wunder "anderen dienen, ihnen aber nützen"?
Großen Respekt für diese Arbeit, vielen Dank für das mutige Angehen und bravouröse Erfüllen der Aufgabe!
9 ½ von 10 Striemen.
Oh, wohlig brennen sich die Hiebe ins Fleisch, abermals herzlichen Dank!
Zu den Petitessen und Fragen:
Das passivische Applaudieren ist fraglos selten und alt aber – zumindest nach Duden – möglich. Aber das war für mich gar nicht so entscheidend: In jeden meiner Texte habe ich ein Original(er)satzteil eingebaut, in diesem Fall die "applaudierte Meinung". Die andere Stelle ist aber sicher ein paar weitere Peitschenhiebe wert.
Die drei Könige kamen erst nachträglich in die Weihnachtserzählung, in der Bibel sind es lediglich Sterndeuter, daher auch der Beruf des ersten: Astronom (Astrologe wäre vermutlich richtiger, klingt aber nicht so schön trocken ...).
Viere sind's, weil mein Vorbild aus ebenfalls vier Sequenzen bzw. "Passionen" oder Teilen, Erzählungen ... aufgebaut ist ("Formstrenge" – tolles Wort, auch dafür übrigens danke!). Zudem ist die Vier im christlichen Kontext wesentlich: Evangelien, irdische Welt, Elemente etc.
Die Berufe der vier Antihelden entspringen ebenfalls einer gewissen Formstrenge: Die Protagonisten des Originals bekleiden (vielleicht nicht das richtige Wort in diesem Zusammenhang) angesehene, zumindest einflussreiche Ämter, deswegen sollten meine das ebenfalls tun.
Der Bedeutungsunterschied zwischen dienen und nützen ist marginal, für mich aber sprachlich fassbar: das Dienen ist aktiv, das Nutzen passiv; die einen müssen etwas tun, damit die anderen was davon haben ...
Ich erkenne aber an, dass, wo so viele Wörter zur Erklärung benötigt werden, der Ursprungstext eine Schwäche hat.