beitrag von: Trinnchen
Eine Weihnachtsgeschichte
weihnachten mit katja baumgärtner
Eine Weihnachtsgeschichte
Anne war gerade aus der Schule gekommen, als sie in die Klinik eingewiesen wurde.
Sie war damals krank gewesen und sehr verzweifelt. Das Leben war ihr schwer, und sie wollte nicht mehr leben. Irgendwo versteckte sie ihre Schlaftabletten für den Fall, wenn wieder alles so ausweglos erscheinen würde. Was Anne in letzter Zeit so aufrecht hielt, war ihr Geigenspiel, das sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt wieder begann. Die schönsten Melodien spielte sie auf ihrer Geige. Annes Mitmenschen hatten den Eindruck, dem Mädchen ging es wieder gut und es sei genesen. Ihr Herz schien jetzt offen zu sein. Trotzdem war sie immer noch alleine, da sie keine Freunde hatte.
Am ersten Dezember aber kam eine Karte. Es war der Tag, an dem sie Geburtstag hatte. Anne feierte ihn mit ihrer Familie. Das schönste Geschenk und darüber freute sich Anne am meisten, war diese Karte, die sie von ihrer Schulkameradin Alexandra bekommen hatte. Sie war sehr glücklich darüber und hielt die Karte in Ehren. Die erste Kerze brannte.
Am zweiten Advent kam ein Schulkamerad zu ihr. Er hieß Dirk. Annes Herz lachte. Sie war glücklich wie es noch nie zuvor ein junger Mensch gewesen ist. Zumal es in der Jugend ganz wichtig ist, Freunde zu haben.
Nun brannte schon die zweite Kerze.
Am dritten Advent kam ein junger Mann mit einem Blumenstrauß zu Besuch, in dem sie unsterblich verliebt. Anne dachte daran, was sie sich schon als kleines Mädchen wünschte, Gott einmal anfassen zu können und ihm einmal ganz nah zu sein.
Sie schätzte die aufeinandertreffenden Zufälle sehr, wie es kein anderer Mensch hätte schätzen können, denn ihr war es sehr ungewohnt. Der vierte Advent rückte näher. An den Fenstern blühten die Eisblumen, in jedem Haus brannten Kerzen, im Ofen loderte das Feuer, und die Menschen gingen wie jedes Jahr über den Weihnachtsmarkt und kauften Geschenke.
Es schneite wie schon lange nicht mehr.
Ein großer Wunsch war damit für das Mädchen in Erfüllung gegangen. Es war längst nicht mehr verzweifelt, das Leben war Anne nicht mehr schwer, und die versteckten Schlaftabletten hatte sie schon längst vergessen.
Die vierte Kerze brannte, und an jedem Advent saßen Anne, ihre Mutter und ihre Geschwister abends zu Hause und sangen Weihnachtslieder.
Im Haus war eigentlich alles weihnachtlich geschmückt, aber es war sehr kalt. Immer wenn nun Besuch kam, wurde das ganze Haus erwärmt, dass es dem Gast gut gehe.
Dann kam Heilig Abend. Alle vier Kerzen brannten.
In jedem Haus war eine feierliche Stimmung. Auch bei Anne war die Atmosphäre feierlich und warm. Leise loderte in ihrem Wohnzimmer das nasse Holz. Anne verbrachte nicht lange den Heilig Abend mit ihrer Familie sondern sie ging sofort nach der Bescherung in ihr Kinderzimmer schlafen.
Fritz, viel jünger als Anne, war an diesem Weihnachtsabend sehr unruhig. Anne und er lernten sich zufällig beim Telefonieren kennen. Anne verwählte sich damals und sie kamen ins Gespräch. Auf alle Fälle musste er an diesem Abend dauernd an Anne denken. Er dachte an die häufigen Telefonate, die sich wieder mehrten. Ihm war sehr unwohl, und er wünschte sich, an diesem Abend noch mit seiner Mutter, zu Anne zu fahren. Die Mutter lehnte natürlich ab. Er könne morgen zu ihr, wenn er unbedingt wolle. Es sei an diesem Abend sehr ungelegen.
Alle vier Kerzen brannten ab. Am nächsten Morgen fand man Anne erfroren im Bett. Das Fenster war leicht geöffnet. Wieso das Fenster offen war und wie es dazu kam, wusste keiner.
Fritz hatte Annes Verehrer geholt, der am dritten Advent die Blumen schenkte. Sie standen beide vor dem Totenbett. Ihr Verehrer hatte Blumen in der Hand, die verschmolzen. Es waren Eisblumen. Er nahm Annes Hand. Anne erschienen sogleich singende Engel – sie lächelte und konnte jetzt, da sie tot war, Gott endlich anfassen, denn der junge Mann küsste sie auf ihren Mund.
Anne durfte Gott anfassen wie noch nie ein Mädchen zu vor, denn in diesem Fall war die Liebe unsterblich.
review von: michael ziegelwagner
Willkommen in einer neuen Schulwoche! Ich hoffe, alle hatten ein so gutes Wochenende, dass sich darüber ein Aufsatz schreiben ließe ("Mein schönstes Feiertagserlebnis").
Womit wir direkt zu diesem Text kämen. Seltsame Sache. Eine Selbstparodie der Autorin? Parodie auf jugendliche Erbauungsliteratur, mit Schlag ins Religiöse? Zarte ironische Ansätze lese ich erstmals in der beherzigenswerten Sentenz "Zumal es in der Jugend ganz wichtig ist, Freunde zu haben". Auch der poetische Blumenstrauß aus Eisblumen hat Komik, desgleichen die Übertreibung in der Individualisierung der Protagonistin ("... wie es kein anderer Mensch hätte schätzen können"). Ansonsten bleibt der Text sehr verhalten, das Komische so subtil, dass zumindest ich es nicht ohne Vergrößerungsglas erkennen kann. Wenn nicht "Parodie" drüberstünde, wäre ich nicht sicher, wie ernst das alles gemeint ist.
Wer ist Gott, den Anne anfassen will? (Ein merkwürdig konkreter Wunsch, wo es den meisten Gläubigen doch reicht, ihren Gott zu "schauen".) Ist Fritz der kalte Tod, der Erlösung bringt? Handelt es sich eventuell wieder um das modernisierte "Mädchen mit den Schwefelhölzern"?
Achtung, Wortlücken: "Am dritten Advent kam ein junger Mann mit einem Blumenstrauß zu Besuch, in dem sie unsterblich verliebt."
Achtung, Zeitebenen: "Anne dachte daran, was sie sich schon als kleines Mädchen wünschte," – gewünscht hatte. "Fritz, viel jünger als Anne, war an diesem Weihnachtsabend sehr unruhig. Anne und er lernten sich zufällig beim Telefonieren kennen." – hatten sich kennengelernt. (War doch vorher, oder nicht?)
Mir ist, wie der Anne, das Blut in den Adern gefroren. Gut für die Eisblumen.