michael ziegelwagner
Der Hörer. Eine Zumutung II - weihnachten mit de sade

michael ziegelwagner (aut) Der Hörer. Eine Zumutung II

beitrag von: jhruebel

Der Hörer. Eine Zumutung II

weihnachten mit thomas bernhard

Es ist mir immer als furchtbar traurig erschienen, dass jede Familie und auch jeder alleinstehende Greis einen toten Baum in seinem Wohnzimmer aufstellt, es mit sterilen blinkenden Lichtern behängt und dann erwartet, in eine feierliche Stimmung zu geraten. Die natürliche Konsequenz ist die größte Zerrüttung des Gemütes, Depression und Einsamkeit. 

Mit dem Näherrücken dieses dummen Festes stürzen sich alle Bürger der Provinzstadt in die Läden und kaufen die dümmsten und fantasielosesten Geschenke, über die sie sich nicht einmal selbst freuen würden. Die Fantasielosigkeit der Geschenke beruht darauf, dass man allen etwas schenken MUSS, es gibt den Zwang zu beschenken und alle leiden darunter, auch deswegen, weil sie wissen, dass sie sich selbst nicht freuen und also auch die anderen nicht erfreuen werden.  Die Menschen kaufen also etwas völlig Beliebiges, ein Buch, das ihnen vom Buchhändler, der die beschenkte Person nicht einmal kennt, empfohlen wurde, bei völliger Abwesenheit eines eigenen Büchergeschmacks und auch der Büchergeschmack der Buchhändler ist  bekanntlich der allerschlechteste und nur an den Verkaufszahlen und der Gewinnmarge orientiert. Es liegt unter keinem Weihnachtsbaum ein einziges Buch, das dem Beschenkten eine neue Welt eröffnen oder doch zumindest seinen Horizont erweitern würde denn das setzte voraus, dass man den Beschenkten so gut kennt, dass man ihm eine unbequeme Lektüre zutrauen und zumuten würde, aber ein Geschenk darf keine Zumutung sein, sondern soll einen materiellen Wunsch erfüllen, der in den meisten Fällen nie dagewesen ist, bevor der Beschenkte mit dem Geschenk belästigt wurde.  Die zwangsläufig fantasielosen Geschenke sind damit ein Fluch, da man die Dinge nicht einfach ablehnen oder wegwerfen kann und der Beschenkte wird genötigt, etwas in Besitz zu nehmen, von dessen abgrundtiefer Hässlichkeit und Nutzlosigkeit er augenblicklich überzeugt ist.

Die stumpfesten und idiotischsten Menschen allerdings gehen an Weihnachten vor dem Zwangsritual des Schenkens nach in die Kirche, um sich von einem in seinen Routinen verblödeten Kirchenmann einen biblischen Text vorlesen zu lassen. Auch ich musste als Kind diesem Ritual beiwohnen, und die sogenannte Weihnachtsgeschichte ist mir von Jahr zu Jahr unlogischer und geistloser erschienen. Der einzige Grund, warum ich mich nicht standhaft dem Kirchgang verweigert habe, ist die Orgel gewesen. Die Präludien und Toccaten die alljährlich von der Empore zu mir herab rauschten waren meine Zuflucht vor dem Starrsinn und der Verblödung des Weihnachtenfeierns.
Ich muss elf Jahre alt gewesen sein, als nicht mehr der alte, zwar etwas menschenfeindliche, aber unter Organisten der Gegend doch angesehene Kantor an der Orgel saß und seine immergleichen mir vertrauten und geliebten Bach’schen Orgelwerke spielte, sondern ein neuer, junger Mensch auftauchte. Es lagen Gesangszettel aus an jedem Platz mit mir völlig unbekannten Liedern auf infantile Texte, wie mir beim ersten Blick sofort aufgefallen war. Von diesem Augenblick an war mir klar, dass dies das letzte Weihnachtsfest sei, das ich in der Kirche verbringen würde. Die Dümmlichkeit der Musik, die eine zum Schunkeln anregende sein sollte, was mir immer schon zuwider war und meinem was Musik betraf andächtigen Naturell zutiefst widersprach, übertraf diejenige des Textes noch und ich gefror in der Kirchenbank und verfiel in tiefste Verzweiflung.

review von: michael ziegelwagner

Danke für die Überarbeitung! Dass, wie ich moniert habe, Geschenke kein Fluch sein können, haben Sie nicht auf sich sitzenlassen und deutlich das Gegenteil nachgewiesen. Versalien ("MUSS") sind etwas bernhardferner, mit der Buchhändlerbeschimpfung wird der Text auch zur Literaturbetriebskritik. Der materielle Wunsch, der erfüllt und zugleich mit dem Schenken erst geschaffen wird, dreht übliches Wunschlistendenken wirtschaftsideologiekritisch um – Angebot bestimmt Nachfrage. Kleine Irritation: Wenn der Beschenkte mit dem Geschenk "belästigt" wird und dessen "Hässlichkeit und Nutzlosigkeit" augenblicklich erkennt, ist es dann wirklich ein erfolgreich geweckter (und erfüllter) Wunsch, der befriedigt wird? Der dritte Absatz wieder besonders stark, am Ende gefriert (!) der Verzweifelte – ein surrealer Einbruch, der nicht nur ans Werk des Meisters gemahnt (Thomas Bernhard, "Bofrost"), sondern bis zur Absurdität darüber hinausgeht.

kommentare

Tse Tse
07.12.2025 13:46

Alte Schachtel! So habe ich den Bernhard'schen Satzbau in Erinnerung. Super!

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