beitrag von: Rouven
Besonders, wie immer
weihnachten mit Robert Walser
Dieser liebliche Glanz ist es von allem in dieser Zeit. Grad, als ob ich allerorten durch ein Schlüsselloch in lichthelle Stuben blickte. Von Engeln noch geschwind verzaubert, bevor sie meinem Blicke entwichen. Ich fühle mich indes nicht ertappt, weil ich ja nur einer inneren Einladung zum Schauen folge. Nie sonst schaue ich so gern. So unschuldig, so heilig.
An diesem einen Tage aber ist alles noch feiner und festlicher. Auf dem offenen Platze stehen die Menschen und reden und gehen in beschaulicher Eile. Auch ich stehe und schaue inmitten des späten, schon dämmernden Nachmittages eine Handbreit über die Köpfe. Wie neblige Auren schlieren im Schein der ersten Laternen, die kondensierenden Atemschwaden von Mensch zu Mensch. Wie lieblich verbunden mir alles erscheint und beinahe glitzert es. Und all diese Stimmen, obgleich schnatternd und zahlreich wie eh und je, klingen heut milde, bald demütig in großer Erwartung eines besond’ren Moments.
Jetzt ist mir doch kalt. Zu lange stehe ich hier schon alleine in den Heiligen Abend hinein. Ich ging ja auch los, mit einem festen Ziel im Sinne, doch scheint es mir jetzt als wollten mich die ersten leisen Schneeflocken, die gegen den schon dunkel gewordenen Himmel tanzen, in eine andere Zeit hinein locken. In eine friedlichere, unerwartet harmlosere. Wie dankbar ich ihnen gleich folgen will!
Fast schäme ich mich, dass ich dieser kindlichen Erinnerung bedarf. Wie nur, dass nun auch mich der sehnlich erwartetste aller Abende mit seinem besinnlichen Zauber als einen im Herzen Ängstlichen entlarvt hat? In jedem Falle bin ich ehrlich vor mir selbst und fühle mich mit dem, so gut es mir gelingen mag. Und doch kommt es mir wie eine Fehlbarkeit vor, die ich am liebsten mit einem Becher Glühwein umstimmen will. Ich verbot mir aber schon vor längeren Zeiten alleine zu trinken, nicht aus der Notwendigkeit, eher zur Vorbeugung. Deshalb husche ich lieber zwischen den zuvor Beobachteten noch rasch ins warme Kaufhaus. Es wird sich doch noch ein herzerwärmendes Geschenk finden lassen, für Veronika, die mich eingeladen hat bei ihr zu sein, heute Abend, bevor der letzte Kommis seine Kassa absperrt und das Geschäft endgültig der Liebe weicht, zumindest für die nächsten 48 Stunden.
review von: michael ziegelwagner
Auch wieder gar nicht böse, eher eine ehrende Nachempfindung. Meine Walser-Lektüre ist ein Weilchen her, aber nach den ersten Sätzen hatte ich gleich den Ton im Ohr. "Von Engeln noch geschwind verzaubert" ist eine Gold-Formulierung. Der Blick "eine Handbreit über den Köpfen" und das Erspähen der "nebligen Auren" ist großartig, evoziert das Bild von Passanten mit Heiligenscheinen. Die ganz kleinen, preziösen Abweichungen machen genau den liebenswert verrutschten Walser aus: "beinahe glitzert es" – nämlich nur beinahe! Und dann der Umschwung von der feierlichen Betrachtung zum aparten "Jetzt ist mir doch kalt"... das ist sehr gut.
Einzig zu beanstanden wäre die unorthodoxe Kommasetzung, aber vielleicht gibt es die auch beim Vorbild? Und den ersten Satz verstehe ich nicht.
Ich würde sehr gerne noch ein paar Seiten in diesem Ton weiterlesen. Titelvorschlag: "Geschwister Tannerbaum".
Erster Satz: statt "von" sollte es vermutlich "vor" heißen, dann schließt er ganz geschmeidig an die Überschrift an.