michael ziegelwagner
Der Lebkuchenmann - weihnachten mit de sade

michael ziegelwagner (aut) Der Lebkuchenmann

beitrag von: fioly

Der Lebkuchenmann

weihnachten mit stephen king

Als junger Mann lebte ich mit meinem Hund Billy in Ellsworth, einer Kleinstadt in Maine. Ellsworth war ein Ort wie jeder andere, einer, an man bei der Durchfahrt nur anhielt, um im Supermarkt oder Einkaufszentrum etwas zu besorgen. Aber es war in Ordnung so, ich hatte ein angenehmes Leben. Ich fuhr einen alten Buick, mit dem ich einmal pro Woche meine Schwester und ihre Familie besuchte, arbeitete in einer Druckerei und vertrieb mir die Zeit mit dem Lösen von Kreuzworträtseln.
In den Winterferien 1987 hatte ich Charlotte, meiner Schwester, versprochen, mit ihrem Sohn Danny zum Vergnügungspark Palace Playland an der New England Coast zu fahren. Es machte mir nichts aus. Danny war ein ruhiger, netter Junge. Er sprach seit Wochen von Joyland, wie er den Vergnügungspark nannte, und zeigte uns den Flyer. Diesen zierte ein grässlicher Clown mit blutunterlaufenen, wässrigen Augen und offenem Maul mit roter Zunge.
Danny und ich fuhren am zweiten Tag der Schulferien ins Palace Playland. Danny trug eine alberne Kappe mit einem Propeller, den er ständig drehte. „Verdammt schwer, noch einen guten Parkplatz zu finden“, sagte ich. Danny hörte nicht zu, er starrte auf einen Punkt vor sich und rutschte aufgeregt auf dem Autositz hin und her. 
Wir besuchten die (zu dieser Jahreszeit, wie wahrscheinlich zu jeder, überlaufenen) Fahrgestelle, aßen Hotdogs, klebrige Zuckerwatte und stellten uns beim Spiegelkabinett an. Als ich die Karten kaufen wollte, gingen immer mehr Menschen in Richtung des Zirkuszelts in der hinteren Ecke des Vergnügungsparks. „Komm, komm schnell, Onkel Henry!“ rief Danny. Bevor ich etwas erwidern konnte, verschwand er in der Menge. Ich folgte ihm, die rosa Karten noch in der Hand. Aber ich konnte Danny nicht sehen. Allein der Gedanke, ihm nachzulaufen, erschöpfte mich. 
Ich schritt auf das rote Zelt zu, suchte einen Weg durch die Menge und da sah ich ihn. Danny, der gebannt einen Mann anstarrte. War es ein Mann? Die Figur in der Mitte des Zelts war irgendwie anders. Es war ein Lebkuchenmann. Allerdings sah es nicht nach einem Lebkuchenkostüm aus, sondern als wäre seine Haut, als wäre er im Ganzen, aus Lebkuchen. Die Kinder und Eltern jubelten und schrien. Da warf ein rotbäckiges Mädchen zwanzig Dollar in die Holzkiste vor ihm. Der weihnachtlich dekorierte Lebkuchenmann drehte den Kopf, hob seinen Arm und biss ein Stück davon ab. Er verzog das Lebkuchengesicht zu einem stummen Schrei, der aus einer weißen Zuckerkringel bestand und ein O bildete. Was ging hier vor? Ich wollte Danny wegbringen, doch der Junge fixierte den Lebkuchenmann weiterhin. Das Schild zeigte nun „30 Dollar einwerfen“ und ein junger Mann mit Regenstiefeln warf sie ein. Der Lebkuchenmann biss sich ein Stück aus dem linken Arm, woraufhin der Unterarm nur noch lose baumelte, und machte wieder sein Zuckerkringelgesicht.
Danny blickte den Lebkuchenmann mit einem mitleidigen Ausdruck an „Sir! Sir, bitte hören Sie auf!“, rief er mit piepsiger Stimme. Dann sah er zu mir. „Wir haben Geld, hier bitte“. Er drehte seine bunte Propellerkappe um, warf Münzen hinein und kam zu mir. Widerwillig (das schöne Weihnachtsgeld der Druckerei, all die Kekse und die Flasche Whiskey, die ich schon vor mir sah) gab ich dem Jungen die Scheine, die ich bei mir hatte. Danny lief zum bunt verzierten Lebkuchenmann, nahm ihn an dem Arm, von dem weniger abgebissen war (auch wenn das schwer zu entscheiden war) und zog ihn hinaus aus der Menge in die Kälte. Der Lebkuchenmann blieb stumm, umklammerte die Kappe mit seinen braunen Lebkuchenhänden, die wie Fäustlinge waren, und ging dann langsam hinkend davon.
Keuchend kam ich hinaus zu Danny. „Meine Güte!“ Danny sah mich nachdenklich an. Er musste wohl nach dem richtigen Wort suchen. „Weihnachtsjoy“, sagte er schließlich.

review von: michael ziegelwagner

Eine Geschichte mit verstörender Wendung, die ganz sachlich vorgetragen wird. Wie in einem Alptraum, in dem der kleine Danny als einziger das Grauen erkennt. Ist das typisch King? Ich weiß es nicht, aber Horror ist es. 
Stellen, die Komik transportieren, gibt es fast nicht. Schmunzeln ließe sich über den Hund Billy, der nur am Anfang des Textes einmal vorkommt, da aber namentlich und prominent, um dann für den Rest der Geschichte zu verschwinden. Lustig die Beschreibung der Kappe, gibt es solche Propellerdeckel außerhalb der Cartoonwelt tatsächlich? Kleinere Ungenauigkeiten: Ein Ort, "an man bei der Durchfahrt nur anhielt". Ob es in 1987er-King-Übersetzungen "Flyer" heißen würde? "Fahrgestell" ≠ "Fahrgeschäft". 
Das Ende kommt etwas abrupt, was wieder zum Alptraum passt. Was bedeutet "Weihnachtsjoy", entgeht mir da ein Wortspiel? 
Gerne hätte ich weitergelesen, die Geschichte beginnt ja erst richtig.

kommentare

Barbara Dvoran
09.12.2025 22:59

Danke! Ich werde die Stellen überarbeiten. Ich hätte auch sehr gerne weitergeschrieben. Vielleicht schreibe ich weiter und dann darf auch Billy wiederkommen.
Die Kappe ist aus der Kurzgeschichte Kings "Böser kleiner Junge" und Joyland ist eine weitere von ihm, die mir gut gefallen hat. Weihnachtsjoy ist trotzdem vielleicht etwas unpassend .. Ich suche nach einer besseren Alternative! Schön, eine Rezension zu bekommen.

michael ziegelwagner
10.12.2025 11:22

Sehr gut, ich bin gespannt auf Teil 2! Leider ist die Zeichenanzahl hier ja begrenzt.

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