beitrag von: T-Man
Weihnachten bei Kafka
Die Überlieferung erzählt von einem Boten, der von dir eine Nachricht bekommen hat, du wünschtest eine Pizza. Tief in einem Hinterhof, hinter der dritten Treppe, gelang deine Nachricht an ihn. Man sagt, eine Maschine so klein wie die Hand der Frau, die morgens an deinem Fenster vorbeigeht zu ihrem Geschäft, hat ihm deine Nachricht angezeigt. Er hat sich auch gleich erkundigt, ob das von dir Gewünschte vorrätig ist, und genickt.
Würde er sich nun aufmachen, sein Fahrrad satteln wie ein Reiter sein Pferd, sich die Mütze über die Ohren ziehen, seine Stiefel über die großen Füße streifen, er wäre vielleicht noch vor dem Ende des Heiligen Abend bei dir und würde dir die Pizza überreichen, mit warmen Händen, denn die hätten den ganzen Weg über in wunderlichen Handschuhen gesteckt, die man in der Fabrik dem Fahrrad beigegeben hatte.
Sicherlich würde er, an paar Mädchen mit langen dunklen Kleidern vorbei, mit einigen wenigen Pedaltritten an das Tor des Essensgebäudes gelangen und es leichthin öffnen können. Aber hinter diesem Tor lagen ja noch hunderte andere, größere und sicherlich auch besser bewachte Tore. Schon der Abstand zwischen dem ersten und zweiten Tor maß mehrere Kilometer, zu schweigen von den Weiten, die hinter den Stadtmauern lagen. Die Straßen waren zudem schlecht, seit Jahren hatte niemand sich um die Ausbesserung der vielen Schlaglöcher gekümmert, die Wege waren regelrecht verwittert und zudem mit Unrat übersät, sie zu bewältigen war fast unmöglich, noch dazu für einen schon etwas älteren Arbeiter wie diesen, der von tausenden weit einfacheren Aufträgen schon ganz zerschunden war.
Was wäre dem Boten da, vor der Aussicht dieser Anstrengung, ein einsamer hungriger Mensch in der Stadt, und sei es auch die nächste Stadt? Der Bote wird - auch angesichts der Wetterverhältnisse, denn der Schnee fällt seit Tagen - sofort verzweifeln, wird dich, der du da drüben hinter den zwei Bergen über seine Zeit verfügst, bereits von tiefstem Herzen verachten und seinen gewiss heißen Spott über dich ausschütten.
Im angelegenen Zimmer lärmen die beiden Schwestern, man hört sie kichern und mit Christbaumkugeln klirren, und der Vater brüllt. Durch die abgeschlossene Türe kannst du sie vor deinem geistigen Auge sehen, des Vaters übergroße Fäuste, die er voller Wut gen Himmel schmettert.
Der Bote ist weit entfernt, er war noch nie so weit weg, keine Macht der Welt könnte ihn zu dir bringen. Du aber sinkst tiefer in dein Kanapee, das mit wie weit aufgerissenem Schlund dich zu sich hinab zieht, und erträumst ihn dir.
Die "Du"-Form kommt tatsächlich auch in den Erzählungen vor, wie z. B. in "Eine kaiserliche Botschaft". Daran ist der Text stark angelehnt. Und "an paar Mädchen" ist bewusst so gewählt; Kafka lässt das "ein" in seinem Prager Deutsch häufiger weg.
Danke für die Anmerkung zu den Zeitebenen!