michael ziegelwagner
Weihnachten mit Ingeborg Bachmann - 88 gestundete Jahre - weihnachten mit de sade

michael ziegelwagner (aut) Weihnachten mit Ingeborg Bachmann - 88 gestundete Jahre

beitrag von: FFFF

Weihnachten mit Ingeborg Bachmann - 88 gestundete Jahre

weihnachten mit Andreas H. Landl

Weihnachten mit Ingeborg Bachmann – 88 gestundete Jahre
Version 2

Ein verschollenes Manuskript, das ab Advent 1972 in Rom entstand, wurde am 8. Dezember 2025 bei Recherchen von Friedrich Freigeist für einen Text zum Bachmann-Wettbewerb gefunden.

Bachmann notiert am Rand eines Typoskripts von „Die gestundete Zeit“:
„Die Zeit wurde nicht nur gestundet, sie wird wieder Wucherzinsen verlangen.“
Seit 1971 bekämpfte sie ihre Winterdepressionen mit „Happy X-Mas (War Is Over)“ und versucht sich an einem Libretto für ein Weihnachts-SciFi-Musical. Randnotiz B. 24.12.72:
„ich muss endlich ein Massenpublikum versuchen“
und:
„aus dem Kerker der Belanglosigkeit der Poesie für Minderheiten auszubrechen“.

Dezember 1944, Klagenfurt

Wir haben einen Baum, obwohl der Wald schon bombenscheu ist.
Mutter hängt die Lamettafäden so, dass sie nicht im Licht der Sirenen glänzen.
Vater sagt, das Christkind sei heuer dienstverpflichtet.
Es bringe nur Ruhe, wenn die Flieger ausbleiben.
Im Radio singen sie „Stille Nacht“.
Irgendwo bellen Hunde, als wüssten sie mehr über morgen als wir.

Gestundete Weihnacht

Diese Nacht ist wieder auf Raten fällig,
zahlbar in Flüstern und Atemzügen.
Wir legen unsere Namen
unter das Kopfkissen,
falls die Decke einstürzt.

Der Baum steht stramm im Blecheimer,
die Nadeln riechen nach früher,
als Schnee noch nur Schnee war
und kein Tarnanzug.

Ein Engel aus Papier
ist an der Spitze festgebunden,
damit er nicht desertiert.

Scheinwerfer zählen die Sterne nach,
drinnen zählt die Mutter
die Kinder durch.

24.12.1964 (Randnotiz):
Die Nacht bleibt offen. Kein Saldo.
Die Hunde sitzen noch in den Marschhöfen der Geschichte.

Dezember 1945

Der Frieden trägt gebrauchte Flügel.
Er stimmt nicht, aber er lässt sich aushalten.
Wir haben Orangen bekommen.
Vater sagt, sie schmecken nach einem Land, das uns nicht kennt.
Die Kerzen tropfen auf die Zeitung der Sieger.

Weihnachtsbilanz

Der Krieg ist abgereist,
ohne sich abzumelden.
Seine Koffer stehen noch
in allen Zimmern.

Wir packen sie nicht aus,
wir stellen den Baum davor.

Im Radio sprechen sie
von Wiederaufbau,
als wäre das Herz
ein Ziegelstein.

Ein Kind übt „Ihr Kinderlein kommet“
mit einer Stimme,
die zu alt geworden ist
zwischen zwei Versen.

Randnotiz 1971:
Man kann ein Land wiederaufbauen.
Die Jahre dazwischen bleiben Brandruinen.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
steht wieder am Horizont.

Advent 1972, Rom

Der Süden feiert ohne Sirenen.
Die Glocken rufen nicht in den Keller, sondern in die Kirchen.
Im Radio läuft Lennon: „War is over, if you want it“.
Ich notiere: „War ist nicht over, er hat nur das Kostüm gewechselt.“

Auf einem losen Blatt beginne ich ein Libretto:
Weihnachten im Raumschiff „Gestundete Zeit“.
Die Erde ist nur noch ein blauer Fleck
im Fenster der Kapelle.

Auszug aus Szene 3, „Weihnachtsmesse im Orbit“:

KAPLAN:
Dies ist mein Leib, der für euch gestartet wird.

CHOR DER ASTRONAUTEN:
Stille Nacht,
leere Nacht,
niemand wacht,
Erde lacht nicht.

KIND MIT RAUMANZUG:
Wenn wir zurückkommen –
gibt es dort noch Schnee
oder nur Werbung für Schnee?

Ich schreibe an den Rand:
„ich hoffe damit endlich ein Massenpublikum zu versuchen“
und:
„aus dem Kerker der Belanglosigkeit der Poesie für Minderheiten auszubrechen“.

Randnotiz 1972 (Fragment):

Welch ein Irrtum.
Der zweite Weltkrieg war nur die Probe.
Die neue Heimat wird uns einholen,
und die Hunde werden wieder wissen,
wohin sie bellen müssen.

Randnotiz 2025 (Handschrift Freigeist):

Der Schnee wird weniger.
Die Brände werden mehr.
Die Engel tragen jetzt FFP-Masken
und singen durch Filter.

Dezember 2032

88 Jahre vergangen, seit Vater den Baum in den Blecheimer stellte.
Die Kinder von damals sind Schatten in Fotoalben,
die Fotoalben sind Dateien in Kellern,
die manchmal unter Wasser stehen
und manchmal nur unter Angeboten.

Die Welt hat sich größere Bomben gekauft,
präzisere, empfindlichere.
Die Weihnachtsmärkte verkaufen
achtsam verpackte Angst
unter Lichterketten,
die nur bis zum nächsten Stromausfall reichen.

Ende der gestundeten Zeit (Probenfassung)

Die Erde ist ein Ball
im Schaufenster des großen Bären.
Ein Kind drückt die Nase an die Scheibe,
während drinnen
die Meere steigen
und die Preise der Rettungsboote.

Die Städte schmücken sich
mit Restglanz,
die Kriege mit Begründungen.

Unterm Baum liegt
ein Gutschein für später:
Frieden, einlösbar
solange noch jemand
„später“ sagen kann.

Vielleicht,
schreibt eine Hand
aus einem vergangenen Winter,
vielleicht ist uns
noch eine Nacht gestundet,

in der wir
die Hunde zurückrufen,
die Fische ins Wasser lassen

und die Kerzen nicht
zum Suchen brauchen,
sondern zum Sehen,

bevor der Vorhang fällt
und die Ansagerin sagt:
„War is over –
wenn ihr wollt.“

review von: michael ziegelwagner

Vielen Dank! Die Einleitung – Winterdepression vs. "Happy X-Mas" – trifft genau die Kursanforderung, die ja bereits etwas verschüttgegangen war: Kombiniere Weihnachtsfröhlichkeit mit eigentlich Inkompatiblem. 
Das Nachfolgende ist dann nur sehr leicht parodistisch, hingegen – meines Ermessens – voll starker Bilder: Der Engel, der nicht desertieren darf, die Scheinwerfer, die  die Sterne zählen (was sonst der liebe Gott im Schlaflied tut), die Frage: "Schnee oder Werbung für Schnee?" Signale der Wiedererkennbarkeit senden die Halbzitate/Anspielungen ("gestundete Zeit", "Großer Bär"). 
Richtig nach Bachmann klingt für mein Ohr die Stelle "Diese Nacht ist wieder auf Raten fällig, / zahlbar in Flüstern und Atemzügen" sowie die "achtsam verpackte Angst" unterm Weihnachtsbaum. Überhaupt scheint mir dieses Beleben des Abstrakten sehr fruchtbar: "der Krieg ist abgereist". Es ist ja eigentlich Propaganda, den Krieg als handelndes Subjekt zu behaupten, so, als hätte er keine menschlichen Akteure ("der Krieg bricht aus" etc.). Dem hält die Dichtung paradox-satirisch und doch zart entgegen, dass ein Krieg eben kein Pauschaltourist ist. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner reist mit. 
Über "bombenscheu" muss ich nachdenken, das leuchtet mir nicht ein.