beitrag von: fioly
Der Lebkuchenmann, 2.V.
weihnachten mit stephen king
Als junger Mann lebte ich mit meinem Hund Billy in Ellsworth, einer Kleinstadt in Maine. Ellsworth war ein Ort wie jeder andere, einer, an dem man bei der Durchfahrt nur anhielt, um im Supermarkt oder Einkaufszentrum etwas zu besorgen. Aber es war in Ordnung so, ich hatte ein angenehmes Leben. Ich fuhr einen alten Buick, mit dem ich einmal pro Woche meine Schwester und ihre Familie besuchte, arbeitete in einer Druckerei und vertrieb mir die Zeit mit dem Lösen von Kreuzworträtseln.
In den Winterferien 1987 hatte ich Charlotte, meiner Schwester, versprochen, mit ihrem Sohn Danny zum Vergnügungspark Palace Playland an der New England Coast zu fahren. Es machte mir nichts aus. Danny war ein ruhiger, netter Junge. Er sprach seit Wochen von Joyland, wie er den Vergnügungspark nannte, und zeigte uns den Werbeprospekt. Diesen zierte ein grässlicher Clown mit blutunterlaufenen, wässrigen Augen und offenem Maul mit roter Zunge.
Danny und ich fuhren am zweiten Tag der Schulferien ins Palace Playland. Der Junge trug eine alberne Kappe mit einem Propeller, den er ständig drehte. „Verdammt schwer, noch einen guten Parkplatz zu finden“, sagte ich. Danny hörte nicht zu, er starrte auf einen Punkt vor sich und rutschte aufgeregt auf dem Autositz hin und her.
Wir besuchten die (zu dieser Jahreszeit, wie wahrscheinlich zu jeder, überlaufenen) Fahrgeschäfte, aßen Hotdogs, klebrige Zuckerwatte und stellten uns beim Spiegelkabinett an. Als ich die Karten kaufen wollte, gingen immer mehr Menschen in Richtung des Zirkuszelts in der hinteren Ecke des Vergnügungsparks. „Komm, komm schnell, Onkel Henry!“ rief Danny. Bevor ich etwas erwidern konnte, verschwand er in der Menge. Ich folgte ihm, die rosa Karten noch in der Hand. Aber ich konnte Danny nicht sehen. Allein der Gedanke, ihm nachzulaufen, erschöpfte mich.
Ich schritt auf das rote Zelt zu, suchte einen Weg durch die Menge und da sah ich ihn. Danny, der gebannt einen Mann anstarrte. War es ein Mann? Die Figur in der Mitte des Zelts war irgendwie anders. Es war ein Lebkuchenmann. Allerdings sah es nicht nach einem Lebkuchenkostüm aus, sondern als wäre seine Haut, als wäre er im Ganzen, aus Lebkuchen. Die Kinder und Eltern jubelten und schrien. Da warf ein rotbäckiges Mädchen zwanzig Dollar in die Holzkiste vor ihm. Der weihnachtlich dekorierte Lebkuchenmann drehte den Kopf, hob seinen Arm und biss ein Stück davon ab. Er verzog das Lebkuchengesicht zu einem stummen Schrei, der aus einer weißen Zuckerkringel bestand und ein O bildete. Was ging hier vor? Ich wollte Danny wegbringen, doch der Junge fixierte den Lebkuchenmann weiterhin. Das Schild zeigte nun „30 Dollar einwerfen“ und ein junger Mann mit Regenstiefeln warf sie ein. Der Lebkuchenmann biss sich ein Stück aus dem linken Arm, woraufhin der Unterarm nur noch lose baumelte, und machte wieder sein Zuckerkringelgesicht.
Danny blickte den Lebkuchenmann mit einem mitleidigen Ausdruck an „Sir! Sir, bitte hören Sie auf!“, rief er mit piepsiger Stimme. Dann sah er zu mir. „Wir haben Geld, hier bitte“. Er drehte seine bunte Propellerkappe um, warf Münzen hinein und kam zu mir. Widerwillig (das schöne Weihnachtsgeld der Druckerei, all die Kekse und die Flasche Whiskey, die ich schon vor mir sah) gab ich dem Jungen die Scheine, die ich bei mir hatte. Danny lief zum bunt verzierten Lebkuchenmann, nahm ihn an dem Arm, von dem weniger abgebissen war (auch wenn das schwer zu entscheiden war) und zog ihn hinaus aus der Menge in die Kälte. Der Lebkuchenmann blieb stumm, umklammerte die Kappe mit seinen braunen Lebkuchenhänden, die wie Fäustlinge waren, und ging dann langsam hinkend davon.
Keuchend kam ich hinaus zu Danny. „Meine Güte!“ Danny sah mich nachdenklich an. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Jetzt möchte ich nach Hause“, sagte er schließlich.
review von: michael ziegelwagner
Danke für die Überarbeitung! (Ich dachte vor dem Lesen, es gäbe einen zweiten Teil, die Fortsetzung.) Das Ende ist nach wie vor eher abrupt, Danny rettet den Lebkuchenmann (Jesus? Der mit seinem Leib für unsere Sünden büßt? Na ja...) und will am Ende einfach nach Hause. Immer noch denke ich, es müsste an dieser Stelle weitergehen. Werden Danny und der Lebkuchenmann Freunde? Dreht sich die Dynamik dieser Freundschaft irgendwann? -- Um also meine Bitte zu wiederholen: Ich läse gern weiter, das Grauen des keksischen Autokannibalismus ist ja eben erst etabliert.
Eine interessante Sichtweise mit dem Büßen! Es stimmt, ich war da gerade sehr drinnen in der Geschichte und habe sie wegen der Zeichenanzahl beendet. Gerne schreibe ich sie jetzt weiter, um diesem ungewöhnlichen keksischen Verhalten auf den Grund zu gehen.