beitrag von: desta
Schneeblind
weihnachten mit stephen king
Die Flasche war halb leer, als es in meiner Wohnung zu schneien begann. Auf das Koks hatte ich schon vergessen, doch die weihnachtliche Erleuchtung kam gerade rechtzeitig. Den Stoff hatte ich mir vom mickrigen Preisgeld für eine mickrige Kurzgeschichte gegönnt, zusammen mit einem neuen Tattoo. Jedenfalls sank ich auf die Knie und dankte den Göttern für dieses weiße Gold. Auf Weihrauch und Myrrhe konnte ich verzichten. Worauf ich nur schwer verzichten konnte, waren meine Kinder. Aber die verbrachten den Heiligabend bei meiner Exfrau. Ich war allein, zugedröhnt und das Gefühl der Sinnlosigkeit hatte sich in mich verbissen wie ein tollwütiges Rentier.
Ich zog zwei fette Lines, drehte die Anlage voll auf und grölte Last Christmas, bis mir die Luft wegblieb. Dann zog ich nochmals zwei Lines, nahm ein paar Schlucke und trat ans Wohnzimmerfenster. Draußen war es still, fast idyllisch. Die Wohnungen der Nachbarn waren von kitschiger Weihnachtsbeleuchtung erhellt und vor zwei Tagen war etwas Schnee gefallen. Weiße Weihnachten. Eine dünne weiße Decke überzog den Innenhof und die Nachbarskinder hatten einen Schneemann gebaut. Es war ein hässliches Ding, mit unterschiedlich großen Augen aus schwarzer Kohle und einem schiefen Maul mit Tannenzapfen als Zähnen. Ich prostete dem Schneemann zu und machte mich wieder über mein weißes Pulver her.
Nach einiger Zeit trat ich wieder ans Fenster. Einige Lichter waren erloschen, doch der Schneemann war noch da. Nur schien er an einem anderen Ort zu stehen als vorhin, nicht mehr beim Sandkasten, sondern näher. Ich war mir sicher, dass mir mein zugedröhntes Hirn einen Streich spielte, zog sicherheitshalber aber doch die Jalousien runter und machte den Wasserkocher an, um mir einen Tee zuzubereiten. Doch hielt ich es nicht aus. Ich ging wieder zum Fenster, schob die Jalousien auseinander und spähte in den verschneiten Innenhof. Nichts. Der Schneemann war weg. Panik und Paranoia spülten über mich hinweg wie ein Tsunami. Ich hörte meine Atmung, das Rauschen in meinen Adern. Dann: ein Klopfen. An der Wohnungstür. Dreimal. Mit jedem Mal lauter. Ich rührte mich nicht. Mein Mund war trocken, meine Backenzähne mahlten aufeinander.
Die Tür sprang auf, und er stand da: groß wie ein Mann, dicker als drei, mit Ästen statt Armen, einer Karotte als Nase und einem Maul aus Tannenzapfen. Der Schneemann schlug mit seinem knorrigen Astarm zu. Ich duckte mich, griff nach der Flasche, zertrümmerte sie und stieß sie ihm in den Bauch. Es war nutzlos. Die Scherben sanken ein, ohne Schaden anzurichten. Er stieß vor. Rammte mir die Karotte in die Rippen. Ich taumelte in die Küche. Schnappte mir das Salzfass vom Küchentresen und schüttete ihm das weiße Zeug in die Fresse. Die Hälfte seines Kopfes schmolz. Wasser tropfte auf den Holzfußboden und eines seiner Kohleaugen fiel auf die Anrichte. Er packte mich. Ich bekam den Wasserkocher zu fassen und kippte das kochende Wasser auf seinen Arm. Es zischte. Dampf stieg auf. Wir stürzten zu Boden. Er begrub mich unter sich wie eine Lawine. Ich biss zu und riss die Karotte heraus. Aus der Nasenhöhle ergoss sich ein Fluss. Ich fühlte die Kälte bis in die Zähne, und dann war da nichts mehr als Wasser und Dunkelheit.
Als ich wieder zu mir kam, roch es nach Desinfektionsmittel. An meinen Armen klebten Sensoren. Eine Schwester mit müden Augen rang sich ein freudloses Lächeln ab.
„Sie hatten eine Überdosis. Ihre Nachbarn haben den Rettungsdienst gerufen. In Ihrer Wohnung ist ein erheblicher Wasserschaden. Die Feuerwehr war da. Man kann sich das noch nicht erklären. Die Hauptleitung scheint in Ordnung zu sein. Mehr weiß ich nicht.“
Ich sagte nichts. Als sie die Tür hinter sich schloss, stand ich auf. Das Fenster war auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, eine Jalousie, grau, leicht, billig. Ich erreichte das Seil und zog daran, ohne nach draußen zu sehen. Die Lamellen schlossen sich, sperrten mich ein, ihn aus.
„Scheiß weiße Weihnachten“, murmelte ich und schlurfte zurück zum Bett.
review von: michael ziegelwagner
Der erste Satz überrascht – dann folgt aber die schon recht bewährte Parallelisierung Schnee-Kokain. Der Protagonist ist vermutlich Stephen King selbst; neigt der zum Koksen, hat er Tattoos? Der Kampf mit dem Schneemann ist knapp und action-artig geschildert. Amüsante Idee: die Härte der Karotte als Stichwaffe. Das Ende ist rund, mit "ihn" ("die Jalousien sperrten mich ein, ihn aus") ist vermutlich ein weiterer Schneemann im Hof des Krankenhauses gemeint: Hat man zuerst noch gedacht, das Erscheinen des Monsters sei auf Drogenmissbrauch zurückzuführen, macht dieser Abschluss wieder alles möglich. Denn vielleicht ist der Krankenhausschneemann auch nur Zufall?
Ich bedanke mich für diesen zweiten (dritten?) Text à la manière de Stéphane Roi, der zugleich der Abschluss dieses Kurses ist, bedanke mich außerdem rundum bei allen Teilgenommenhabenden, freue mich auf Kommentare hier drunter und möchte wunderbar besinnliche Vorweihnachtstage wünschen mit Glühwein, Kokain und Kinderlachen! Und vielleicht gelangt ja unterm Christbaum das eine oder andere Kurs-Gedicht zum Vortrag.
Alle Flonnys, Timmys und Justines meiner Familie haben ihre Latexanzüge aus dem Keller geholt und geölt, geplatzte Bockwürstchen liegen neben dem getrockneten Senf parat, um in zwei Wochen verspeist zu werden, der Weihnachtsbaum hängt kopfüber von der Decke, gekeulte Gänse aus dem geregelten Weihnachtsmarktangebot warten auf die Zubereitung und ein zugekokster Gingerbread-Man versucht einen Dreizeiler zu schreiben, der die Länge eines Reviews nicht überschreitet ... könnte also alles ganz entspannt werden, wenn nicht das Thermometer im Aster so zwicken würde.
Ich finde, das hier war ganz deutlich eines der schöneren vorweihnachtlichen Erlebnisse, sogar noch vor Wham und Glühwein! Dazu beigetragen haben natürlich vor allem die großartigen Texte von tollen Autor:innen, die vielleicht nicht immer 100%ig die Aufgabenstellung trafen, aber so unterhaltsam und ideenreich Vorbilder, Klischees und Rituale verwursteten, dass es eine Art hat. Nicht weniger interessant als die Texte waren hintergrunderläuterungserklärende Kommentare, gelegentlich sogar unterhaltsamer.
Und, nun ja, es muss erwähnt werden, dass der Lehrer hier einen nicht geringen Anteil an Humor, Motivation, sprachlicher und inhaltlicher Genauigkeit und Fülle beigetragen hat, also ein prima Lektor und Förderer war/ist. Insofern gebührt auch der Schule Dank, denn sie hat sich aus Gründen (nehme ich an) für Michael Ziegelwagner entschieden und gewährt überdies Menschen aus aller Welt (kosten-)freien Zugang zur Bildung. Vergelt's Gott!