beitrag von: TseTse
Weihnachten bei den Charms’ (2.2.1944 in Leningrad)
weihnachten mit Daniil Charms
Daniil stand auf, das Tranchiermesser in der Hand wie ein Zepter.
Er räusperte sich.
„Die Haut“, sagte er, „ist das erste, was man sieht, fühlt, riecht. Krosse, knisternde Knusprigkeit ...“
— Ritsch! — schnitten wir durch die Haut, zogen sie in Fetzen vom Körper und schlangen sie gierig hinunter, während wir Daniils Magen knurren hörten.
Er hielt inne. Wir schauten betont höflich.
„Die Schenkel sind das Wichtigste“, sagte er, „die Schenkel tragen ...“
— Ratsch! — rissen wir die Schenkel heraus, heiß, duftend, saftig, und nagten das Fleisch von den Knochen.
„Wartet!“, rief Daniil. „Einen Moment ...“
Wir kauten genüsslich und sahen ihn erwartungsvoll an.
„Das Fett“, sagte er, „das Fett macht das Wesen der Weihnachtsgans aus ...“
— Platsch! — hauten wir die Löffel in die Soßiere, schlürften das beim Braten ausgetretene Fett, wischten uns die Finger und Münder an seinem Sakko ab.
Daniil versuchte so zu tun, als habe er es nicht bemerkt. Das Fett haftete aber nun mal an seinem Jackett und verklebte den Stoff und hinderte ihn in seiner Bewegung und Entfaltung und schränkte ihn mehr und mehr ein. Sein Hunger brachte Daniil fast um den Verstand, und er wollte gerade in seinen Ärmel beißen, um wenigstens einmal etwas vom Weihnachtsbraten zu bekommen. Doch wir forderten ihn sogleich auf, uns mehr vom Wesen und der Bedeutung der Gans zu erzählen.
„Die Bruscht“, sagte er, kaum noch verständlich vor Schwäche und im Mund zusammengelaufenem Wasser, „die Bruscht beherbergt nischt nur das Herzsch und die Scheele ...“
— Matsch! — zerfetzten wir die Brust in handliche Häppchen, teilten sie unter uns auf, ohne Daniil damit zu bedenken, der nun seinerseits anfing bedrohlich zu schwanken. Um nicht sogleich umzufallen, haute er das Tranchiermesser in den Tisch und stützte sich daran ab.
Am Himmel vor dem Fenster flogen kleine Kugeln und große Sterne, unser Schmatzen klang dazu wie Händels Feuerwerksmusik.
„Gebt mir einen Flügel“, bat er. „Nur einen Flügel, bitte.“
Wir gaben ihm einen abgenagten Knochen und sagten: „Flieg, kleiner Vogel, flieg!“
Er wollte noch erklären, dass man das Ganze und das Innerste der Weihnachtsgans erst verstehen könne, wenn man das Äußere gekostet und mit allen Anwesenden geteilt habe.
Wir zeigten ihm die leere Platte.
Er schaute lange. Dann sagte er: „Das ist nicht die Gans.“
Wir nickten. „Doch.“
Er sah uns ratlos an.
Auf dem Tisch lag eine Feder.
Er nahm sie, hielt sie ans Ohr und flüsterte:
„Hört ihr das?“
Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, sah er eine goldene Gans an sich vorbeiziehen und vernahm das sich entfernende Schmatzen seiner Gäste.
Leise rieselt der Schnee.
review von: michael ziegelwagner
Die Tests werden schwieriger: Charms habe ich, wenn überhaupt, nur einmal sehr oberflächlich gelesen. Zum Glück bauen Sie auch einen Verweis auf das "Mädchen mit den Schwefelhölzern" ein, damit ich etwas zum Wiedererkennen habe. Das verhungert ja auch glücklich und sieht vorher noch Weihnachtsgänse vorbeiziehen.
Auch wenn ich also nicht recht kompetent bin, die Parodietreue zu überprüfen (gibt es bei Charms viele Interjektionen?), nehme ich doch die Komik wahr, das Groteske: Einer doziert über das richtige Verspeisen eines Bratens und kommt grade deshalb nicht zum Essen (und wird überdies noch als Serviette missbraucht). Der Aufbau ist geradezu klassisch, wie im Witz: Daniil erklärt, die Fresser fressen, 3x, 4x hintereinander. Bei "Flieg, kleiner Vogel" musste ich lachen.
Die Datumsangabe verstehe ich nicht recht. 1944 war Charms schon tot, spielt die Geschichte im Jenseits? Dann würde er wohl am Ende nicht das Bewusstsein verlieren. Und wieso lauscht er an der Feder?
Wenn es Intention des Textes ist, auf Daniil Charms neugierig zu machen, so ist das gelungen. Platsch!
im fallen einer der gößten möchte ich spontan anfügen ... großer text und schönes review! danke aber hören wir erst mal den autor zum review ... bin gespannt ... ps schlage allgemein das du vor ... ist doch ne nette runde hier bisher ... hoffe noch auf poetessen ...