michael ziegelwagner
Weihnachten mit Urmuz (23.11.1923) - weihnachten mit de sade

michael ziegelwagner (aut) Weihnachten mit Urmuz (23.11.1923)

beitrag von: TseTse

Weihnachten mit Urmuz (23.11.1923)

weihnachten mit Urmuz

Weihnachten mit Urmuz (23.11.1923)

Niemand konnte sich erklären, warum der Schnee an jenem Heiligen Abend von innen her leuchtete. Er lag nicht auf den Dächern, sondern schwebte knapp darüber, als hätte sich die Gravitation für die Feiertage beurlaubt. Die Straßen Bukarests rochen nach Ozon, Mandeln, leicht verbrannter Philosophie und Urin. Das war nicht weiter verwunderlich, denn noch stand ja der November vor der Tür und hatte sich eingenässt.
Urmuz hatte das frischluftige Haus geschmückt, wie es Genies, die im falschen Jahrhundert geboren wurden, für gewöhnlich so tun: Die Tannenzweige hingen kopfüber von der Decke, aus den Kugeln tropfte Petroleum und auf der Krippe lag – statt des Christkinds – ein zahnradförmiges Himmelsobjekt mit eigenem Puls. Die nicht vorhandenen Fenster waren weit geöffnet und ließen lila Nebel in die Räume.
„Das ist keine Blasphemie“, sagte Urmuz, ernst auf die Krippe deutend, „das ist ein mechanischer Kompromiss zwischen Geburt und Expansion des Universums.“
Wir saßen um einen Tisch, der in leichten elliptischen Bahnen um sich selbst kreiste. Neben mir Daniil Charms, eingestrichen mit Gänsefett, zwei Ohren an die Schuhe genäht, ihm gegenüber Flann O’Brien – halb real, halb im Zustand der Nachsicht. Er diskutierte mit einer unsichtbaren Instanz über Fahrräder aus Sternenstaub. „Die Räder“, sagte er, „bestehen aus Raumzeit. Nur wer darauf fährt, bleibt stehen.“
Die drei Grazien erschienen pünktlich zum Aperitif, trugen nichts als Nebel und astronomische Formeln auf der Haut. Sie tanzten, ohne sich zu bewegen, und summten ein Weihnachtslied in einer Sprache, die es nie geben wird. Ein gelber Stuhl spielte eine Rolle, aber das wusste er nicht, weswegen er in Grund und Boden versank und ertrank.
Statt einer Gans wurde ein Frosch aufgetragen – lebendig, grün, und mit einem Ausdruck tiefer Erkenntnis. Urmuz erklärte, was alle im Kreis bereits rochen:
„Ein Frosch ist das wahre Sakrament des Chaos. Wer an ihm leckt, wird die Relativität der Zunge begreifen.“

Wir lecken also, aus Höflichkeit, und sogleich verflüssigt sich der Raum. Die Wände beginnen zu atmen. Die Decke öffnet sich und lässt die Milchstraße herein, tröpfchenweise, als hätte sie vergessen, dass sie draußen wohnt.
Flann kippt nach hinten und murmelt etwas von Molekülen und Metaphysik. Die Grazien verschwimmen zu einem einzigen Schimmer, halb Frau, halb Galaxie. Der Frosch explodiert in einen Chor von Quanten. Daniil versucht, wenigstens ein kleines Stück Quantenfrosch zu ergattern, muss aber hungrig bleiben. Ich entdecke in meiner Hosentasche die Kiste Bier, die ich schon im letzten Jahr hatte trinken wollen und hole das zügig nach.
Urmuz steht auf, hebt das Glas und verkündet:
„Meine Damen und Herren, das Weihnachtswunder hat begonnen: der Kausalzusammenhang ist abgeschafft!“
Alle Gäste applaudieren und beglückwünschen sich zu Weisheit, Erkenntnis und Schönheit.
Die Planeten geraten in Streit, wer die beste Umlaufbahn habe. Das Haus kippt auf die Seite, eine Dimension fällt um. Ich sehe, wie sich alles in Kreisen dreht: drei schimmernde Grazien; ein Frosch ohne Ursache und Aggregatzustand; Flann, der – weiß der Teufel woher – ein Fahrrad organisiert hat und damit in einem irischen Lebenslauf verschwindet; mich selbst als Abziehbild in einem Stickeralbum der schönsten Schwarzen Löcher; der magenknurrende Daniil auf der Suche nach der Weihnachtsgans; Urmuz, seriös gekleidet im grauen Anzug und Überzieher, eine Schachtel voller rebellischer Musen vor sich. Er versucht, sie zu kämmen und zu küssen, doch die sagen einfach nur: Fick dich!

Dann Stille. Eine kosmische, vollständige Stille.
Urmuz hebt eine kleine silberne Pistole – kaum größer als ein Gedanke. Als er winkend das Haus verlässt, lächelt er, als hätte er die Antwort gefunden, aber keine Frage mehr übrig.
Mit 4000 Zeichen pro Geschichte durchschlägt die Kugel seine Schläfen.

Schlussbemerkung und Moral: 
Stadtbild! 
Macht keine Flecken auf den Boden!
Räumt auf, bevor ihr geht!

review von: michael ziegelwagner

Tsetses Beiträge runden sich zur Trilogie. Zwei Hauptdarsteller aus früheren Texten sind zu Besuch gekommen, das Absurde legt im weihnachtlichen Bukarest noch eine Schicht drauf: Der Schnee und die Physik machen zusammen Urlaub, es wird in einer Sprache kommuniziert, die es nie geben wird, und Frösche haben keine Ursache (und keinen Aggregatzustand – haben sie ja wirklich nicht, zumindest keinen permanenten, als Metamorphosentiere). Der inkontinente November ist ein erstaunlich schlüssiges Bild. Und auch der Phrase wird hier manchmal Neues abgetrotzt: Wenn der November "vor der Tür steht", heißt das für gewöhnlich, er steht unmittelbar bevor; hier wird das Sprichwort ins Konkrete gewendet, denn "vor der Tür" steht der nasse Herbst ja wirklich, schließlich regnet es drinnen nicht. Dafür kommt unversehens die Milchstraße herein, die vergessen hat, dass sie "draußen wohnt". 
Manchmal ist es mir zuviel des Guten: Ein "zahnradförmiges Himmelsobjekt mit eigenem Puls", darunter kann ich mir nichts mehr vorstellen. Ähnlich geht’s mir mit dem Quantenfrosch, aber vielleicht sind das einfach Anspielungen, die ich nicht zuordnen kann. Poetische (und komische) Funken entstehen, wenn Ungewohntes aneinanderschlägt; wenn man’s zu sehr forciert, sieht man vor lauter Funkennebel nichts mehr. 
Hier hingegen klappt es: Die Geschwindigkeitsangabe "4000 Zeichen pro Geschichte", das ist konsequente Poesie, nämlich sowohl gedanklich als auch sprachlich (Anklang an "4000 Sachen"). Überraschend das Ende: Plötzlich springen wir ins Polit-Kabarett der ganz alten Schule, die Bräsigkeit der moralisch-aktuellen Pointe ist selbst eine Pointe. 
Ein Text, in dem einem nie langweilig wird.

kommentare

dieter baddack
25.11.2025 04:10

wenn ich das mal so vorneweg sagen darf ... bevor tsetse erwacht ...

was mir an dem text extrem gefällt sind seine experimentellen elemente ... nebst anspielungen

... es gibt da z.b. so einen frosch ... dem wird nachgesagt dass wenn man an ihm leckt ... halluzinogene träume entstehen ... .. ich hab mal grade nachgeschaut … es wird ihr nicht nur nachgesagt … es wirkt .. die coloradokröte – auch bufo kröte subtanz bufotenin …

höchste liga champions league … dazu das spiel schön anzuschauen … beste unterhaltung mit gelegentlichen kapriolen .. etwas das ich auch an charms sehr mag … urmutz bisher völlig unbekannt …was für ein tipp … man sitzt vor dem pc und staunt

Tse Tse
25.11.2025 10:27

Vielen Dank erneut! Ja, mit diesem Text schließt die Trilogie, in der vorwiegend gestorben wird (keine Angst, Geburten stehen noch an), meine heiligen drei Könige sind allesamt zu früh aus ihrem Leben gegangen (worden), als hätte Herodes ein weiteres Mal unter den Knaben gewütet, um seine Macht zu verteidigen.
Das Zuviel des Guten ist auch hier dem Verschuch geschuldet, ein höchstverdichtetes Gesamtwerk weiter zu verdichten in die Strenge der 4000 (übrigens zählt dieses CMS ein wenig anders als mein Schreibprogramm, weswegen es vielleicht doch nicht ganz genau 4000 Zeichen sind ...).

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