beitrag von: Joellinger
U-Bahn und Eierlikör
Ernst hängt eine rote Kugel auf den Christbaum.
Erna schreit: „Nicht da auf den Ast. Da drüben auf den. Nein, noch weiter nach hinten. Alles muss man sich selber machen.“
Ernst hängt weitere Kugeln auf den Chtistbaum.
„Ernst, hast du schon wieder den Eierlikör vergessen? Du weisst genau, dass ich den zu Weihnachten gerne … Aber nichts tust du für mich. Gar nichts.“
„Der Billa in Meidling hat noch offen. Ich hol dir deinen Eierlikör.“
„Und ich muss den Christbaum alleine aufputzen. Typisch Ernst. Typisch Mann!“
Ernst steht am Bahnsteig in der Längenfeldgasse. Diesmal wird er es tun, das weiss er. Schon bevor der Zug einfährt überschreitet Ernst die gelbe Linie.
Erna hängt eine rote Kugel auf den Christbaum. Zündet die Kerzen an. Sie nimmt das gerahmte Foto von Ernst. Staubt es ab. Setzt sich aufs Sofa. Streichelt über das Foto von Ernst.
Ernst hängt eine rote Kugel auf den Christbaum.
Christa ruft: „Ja, schön machst du das. Und beeil dich! Die Kinder kommen gleich.“
Ernst umarmt Christa.
„Vor zehn Jahren wollte ich noch ...“
„Red doch nicht immer von der Vergangenheit!“
Ernst überlegt kurz und sagt: „Wir haben noch gar keinen Eierlikör für die Tante. Der Billa in Meidling hat noch offen. Den hol ich noch schnell.“
Ernst steht am Bahnsteig in der Längenfeldgasse. Diesmal wird er es tun, das weiss er. Schon bevor der Zug einfährt überschreitet Ernst die gelbe Linie.
review von: christiane rösinger
Das ist nun nicht wirklich ein Gedicht oder ein Song - eher ein kleines Dramolett. Ehekrieg mit ungutem Ausgang. Man weiß ja: Die Weihnachtstage sind härtete Bewährungsprobe für die heilige Kleinfamilie und schwer auszuhalten. In wenigen Zeilen hast du die ganze Tragödie geschildert, ohne zu psychologisieren - nur durch den scheinbaren Allerwelts-Dialog. Gruselig. Gut!