beitrag von: schwarzesoja
Haikus in deutscher Sprache weiterentwickelt
recherche
ortelos schnee.
du
kehrst nicht zurück aus der fläche.
die dir mit toden bedeckt
bietet
so sterblich sich dar.
(Jürgen Kross)
Seit Monaten stellt der Account Liedhaft @liedhaft Jürgen Kross Gedichte aus der kommenden Gesamtausgabe vor, die meiner Meinung nach eine neue Form der Lyrik darstellen und die nicht zuletzt wegen ihrer Kürze perfekt für Twitter geeignet sind. Sie umgehen auch das Problem der 5-7-5 Form, die mit der deutschen Sprache meiner Meinung nach nicht so sinnvoll erscheint. Aussage, Ansprache, Verbindung - das mittlere Wort bietet viele Möglichkeiten und erlaubt eine höhere Freiheit beim Dichten.
Unter @liedhaft finden sich viele weitere Kross Gedichte, die zeigen, dass neben der Natur auch Persönliches verdichtet werden kann, die die Leser*innen (er)greift.
review von: martin fritz
ein großes caveat vor meiner review: ich habe mich mit haiku bislang kaum beschäftigt, ich weiß dazu kaum mehr als ich in roland barthes' "die vorbereitung des romans" darüber gelesen habe. auch muss ich gestehen, dass jürgen kross' lyrik mir bislang unbekannt war - vielen dank also für das darauf aufmerksam machen.
dies gesagt habend stimme ich absolut zu: ich halte die ausgewählten beispiele ebenfalls für sehr gelungene lyrik - es ist faszinierend, wie viel atmosphäre sich auf so kleinem raum entfaltet, wie - wie beschrieben - das mittlere wort gewissermaßen als scharnier die zeilen verknüpft, wie gut austariert hier sich mehrdeutigkeit und sprachliche präzision präsentiert (das noch ganz unabhängig davon, ob die*der leser*in einen persönlichen bezug findet zur natur- bzw. den anderen thematiken der gedichte). und so viel weiß auch ich gerade noch, dass die übertragung der form haiku aus dem japanischen gleich mehrere probleme macht, einerseits die angesprochenen probleme mit den silben, weil die deutsche sprache eben anders strukturiert ist als die japanische. und dann gibt es gewiss noch viele (möglicherweise auch produktive) missverständnisse bei der übersetzung der japanischen lyriktradition in einen doch sehr fremden kulturellen kontext. dass hier jürgen kross' vorgehen ein relevanter beitrag ist leuchtet mir sofort ein. ebenfalls stimme ich zu, dass die kürze der form sich sehr gut eignet, um auf twitter präsentiert zu werden. wir haben hier als sicher ein weiteres twitteratur-genre gefunden: schon vorher bestehende lyrik auf twitter stellen, und sehen, was es damit macht (lyrik auf twitter wird sicher anders gelesen als lyrik im gedichtband). auch hier wäre ich sehr interessiert daran, weitere bespiele kennen zu lernen - gern auch hier als comment oder neuer beitrag!
eine weiterführende frage, die sich mir stellt, ist hingegen die, ob wir hier wirkliche eine gewissermaßen im engeren sinn genuine twitter-poesie gefunden haben, also eine dem medium twitter besonders verbundene, mit und durch twitter sich neu herausbildende form vom sprachverwendung, von poesie? schon klar: alles gab und gibt es auch vor und außerhalbs von twitter und allein durch das stellen auf twitter passiert ja schon etwas mit dem text. aber wäre es nicht auch reizvoll, über die unveränderten gedichte von kross hinausgehend zu versuchen, neues damit anzustellen? das passiert beim account @liedhaft auch insofern schon, als der account auch anderes twittert und sich so im twitterstream des accounts neue kontext ergeben. in dem zusammenhang finde ich persönlich zum beispiel sehr schön, dass @liedhaft auch song-zeilen von lana del rey getwittert hat: https://twitter.com/liedhaft/status/1191892394238783488 - prompt frägt in einer reply jemand nach, ob das lyrik sei. meine vermutung ist, dass es genau dort spannend ist, wo das die frage ist.
jedenfalls: gratuliere zu diesem beitrag, ich bin gespannt auf weiteres und vor allem auf tweets in den fußstapfen von liedhaft, kross, del rey oder denen von ganz anderen - auf zu aufgabe 2!