advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 1
beitrag von: praeauer
Die Tür geht auf. Ein junger Mann tritt ein. An seinem Bart hängen Schneeflocken, die gleich zu Tropfen werden und auf den Boden fallen. Der Name des Mannes ist Michael, ausgesprochen Maikel, seine Eltern haben noch Michael Jackson und Madonna gehört, Prince und David Bowie. Michael sucht Aisha, die er auf der Straße getroffen hat. Die Straße ist die Mariahilfer Straße und der Raum, den er soeben betreten hat, ist der Sneakers-Laden, in dem Aisha arbeitet. Wie war das gerade noch, als er Aisha gesehen hat, zum ersten Mal in seinem Leben? Michael hatte seinen Burger aus dem Karton geholt und mit großem Appetit ins weiche Brot gebissen, als Aisha vorbeigestapft ist in den neuesten Sneakers mit bunten Applikationen und dreifach-erhöhtem Absatz und ihm einen Blick zuwarf, mit dem er nicht gerechnet hatte. Nicht von dieser Frau und nicht an einem Tag wie heute. Als Michaels Zähne auf den heißen Fleisch-Patty treffen, verwandelt sich Hitze in Schmerz, und Michael schreit auf. Aisha, bereits auf dem Weg an ihren Arbeitsplatz im Sneakers-Laden, dreht sich noch einmal nach ihm um und muss lachen. Michaels weißer Schi-Anorak mit Fellkapuze ist vom Kragen oben bis zur Hose unten bekleckert mit Barbecue-Sauce, und Barbecue-Saucen-Braun auf weißem Goretex ist nicht gerade die Farbe, die Michael gut steht, auch wenn sie zur Farbe seines Bartes passt. Michael flucht, Aisha verschwindet im Laden. Michael läuft ihr hinterher …
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 2
beitrag von: friedwart
Barbecue-befleckt und Schnee-tropfend steht er in der Tür, verzaubert von dem Blick, den Aisha an diesem Morgen auf ihn geworfen hat. Er weiß nicht, dass dieser Blick einer ganzen Stadt gegolten hat, die der Sneaker-Goddess heute untertan sein wird. Josephine erfuhr das in dem Moment, in dem Aisha das Schuhgeschäft betrat. Das schüchterne Mädchen ist zum ersten Mal hier, endlich hat sie den Mut für einen Besuch in dem Laden mit den hippen Auslagen aufgebracht. „Setz dich hin“, hat Aisha zu ihr gesagt, freundlich und so bestimmt, wie Göttinnen nun einmal sein müssen. Und nun sitzt sie auf dem Probierschemel und Aisha legt ihr neue Schuhe an. Josephine hat noch kein Wort gesprochen, aber natürlich passen Größe, Aussehen und Farbe. Hier wird kein Sneaker probiert, hier wird eine Rüstung angelegt. Josephine nickt schweigend, sie genießt den festlichen Akt, schaut staunend zu, wie sich ihre kleinen Füße verwandeln. MichlMaikelMichael beobachtet und begreift, dass er nur zufällig vom göttlichen Blick gestreift wurde. Dass er nur pars pro toto gemeint war und nun wieder seinen Platz im ganzen Rest einzunehmen hat. Er verlässt den Sneakerladen und sieht nicht, wie Josephine wenige Augenblicke später aus der Tür tritt. Sie schreitet in den Tag. „So viel ist heute möglich“, denkt sie sich in ihrer neuen Rüstung, als sie wenig später die Tür zum Cafe Ritter öffnet…
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 3
beitrag von: schreiberin
Der Ober, der gerade auf einem Tablet einen kleinen Braunen und ein Glas Wasser balanciert, zwinkert ihr zu. „Warma einkaufen, Fräulein Josephine“, sagt er mit einem Blick auf ihre Schuhe. Josephine lächelt, sie dreht sich um, hängt ihre Jacke auf und sagt nur: „Wie immer, Herr Franz!“ Der Herr Franz ist fast so schnell bei ihrem Platz wie sie selber. Er stellt die heiße Schokolade hin und fragt: „Darfs ein warmer Apfelstrudel sein?“. „Für mich auch bitte“, sagt jemand hinter ihm. Der Jemand wickelt den Schal vom Hals, stopft ihn in den Mantelärmel und schleudert den Binkel auf den leeren Platz neben Josephine. "Die Sneakers sind besser, als jede Rose", sagt er, und dass er sich freut, und dass er der Ernsti ist. Hätte sie jetzt nicht ihre Rüstung an, würde sie sagen: „Ich glaube, Sie verwechseln mich!“. So sagt sie: „Was hast du denn geraucht?“ "Ich rauch nicht", sagt der Ernsti, und dass sie ihm ruhig den Namen verraten kann, jetzt, wo sie schon per Du sind. „Ich glaub, ich bin im falschen Film“, denkt Josephine. Bei der Eingangstür stampft jetzt eine junge Frau den Schnee von den Schuhen, sie nimmt die Baskenmütze ab, schüttelt die blonden Locken auf ihre Schultern und schaut sich suchend um. „Hätten Sie ein freies Platzerl für mich?“, fragt sie bei der Budel, wo der Herr Franz gerade die Apfelstrudel herrichtet. „Hinten links, die Dame“, sagt Herr Franz. Und als sie bei dem Tisch von Josephine und Ernsti vorbei marschiert, schauen beide gebannt auf ihre Schuhe. „Ich glaub, dein Blind date ist da“, sagt Josephine, und dass er den Apfelstrudel gleich mitnehmen kann zu dem anderen Tisch. „Der Herr zahlt“, sagt sie noch zum Ober Franz, bevor sie die Tür hinter sich zufallen lässt. „He“, ruft Ernsti, dann packt er seinen Mantelbinkel und geht zu dem Tisch hinten links und sagt: „Die Sneakers sind besser, als jede Rose!“ Jaqueline hebt kurz die Augenbrauen und…
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 4
beitrag von: matthaeusbaer
... und deutet mit ihren langen Plastikfingernägeln von ihrem Smartphone zu Ernsti und wieder zurück. "Bist du der, von dem ich glaube, das du's bist?", fragt sie. Ernsti steckt seinen eigenen Finger in den üppigen Schlagobershaufen neben dem Apfelstrudel und leckt ihn in Zeitlupe ab. "Naturalmente, Amore." Er quetscht sich zu ihr auf die durchgesessen Sitzbank. "Passt", sagt Jaqueline. "Ich hab' nämlich nicht viel Zeit. Also, wie ausgemacht, 30 für dich ok?" Ernstis bemüht lasziver Blick verliert etwas an Verve. "Häh?" Jaqueline klackert mit ihren Nägel auf das Display vor ihr. "Na, ob 30€ für dich in Ordnung sind?" Ernsti friert das Gesicht ein. "Ähm, eigentlich hab' ich da noch nie was bezahlen müssen ... beruht das nicht auf gegenseitigem Einverständnis und so?" Jaqueline reißt endgültig der Geduldsfaden. "Boah, immer das gleiche. Herschenken tu ich's nicht. Also, entweder du zahlst, oder ich nehm's wieder mit." Sie steht auf und flucht. Ernsti streicht sich nervös über die Cordhose. Er beginnt zu weinen. Beim Versuch die Tränen zu verdecken, taucht er seinen Ellbogen in den warmen Apfelstrudel. "Warum nur? Warum will mich niemand haben?", schluchzt er. "Ich hab' echt gedacht, du bist die Richtig. Mein Lebensmensch! Scheiß Paarship!" Jaqueline hebt wieder eine Augenbraue und reicht ihm eine Papierserviette. Ernsti schnäuzt sich geräuschvoll. "Noch einmal", sagt sie möglichst geduldig. "Willst du jetzt die Apfelspiralisiermaschine, oder nicht? Du bist eh 'Pantoffelheld3000', oder? Von Willhaben?" Als Antwort heult Ernsti laut auf und schlägt sein Gesicht mehrmals auf den Dessertteller. Blätterteigschlagobersapfelbrei spritzt Jaqueline auf die Sneaker. "Ok, dann halt nicht", sagt sie und marschiert aus dem Café. Vor der Tür raucht sie sich eine an und murmelt: "Als Treffpunkt war doch klar ausgemacht: 'Das ranzige Kaffeehaus auf der Mariahilfer, in dem sich Gymnasiasten und angehende Literaten treffen'. Was könnte da sonst gemeint sein?"
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 5
beitrag von: christiane_hanna
Vielleicht ja auch das Starbucks, denkt sich Jaqueline, das ist auch irgendwie ranzig. Außerdem was weiß ich, was der Pantoffelheld3000 unter angehenden Literaten versteht. Sie steuert den Laden an, er ist brechend voll mit Leuten, die sich beim Kaffee-Latte vom Geschenkejagen in der Fußgängerzone erholen. Jaqueline bahnt sich über Einkaufstüten stolpernd den Weg zum einzigen Tisch, an dem noch ein Platz frei ist. Ohne zu fragen, ob das eh okay ist, lässt sie sich auf den Stuhl fallen. Ihr Gegenüber, eine Frau namens Nina mit strähnigen Haaren und huskyblauen Augen, hat nichts gegen Gesellschaft, im Gegenteil. Sie fängt ein Gespräch an, dem Jaqueline nur halbherzig folgt. Mit dem größeren Teil der Aufmerksamkeit scannt sie den Raum vergeblich nach Pantoffelheld3000 ab. Als Nina sie fragt: „Was ist denn das? Schaut aus wie ein Folterinstrument.“, wittert Jaqueline eine Chance. „Das ist ein Spiralschneider. Dank der Schärfe durch massive Edelstahlklingen sowie seiner unglaublichen Robustheit eignet sich das formschöne Gerät zum Schneiden von nahezu allem. Im Gegensatz zur mechanischen Version lässt sich damit auch mühelos den härtesten Gemüsen beikommen – zum Beispiel trendigen Süßkartoffeln, die als Pommes-Frites-Alternative hauchdünn zum klassischen Burger serviert werden.“ Donnerwetter. Jaqueline ist überrascht über sich selbst. Und sie hatte immer gedacht, ihre Jahre als Texterin stupider Advertorials wären Zeitverschwendung gewesen. Dankbar für die unverhoffte Inspiration zum wichtigsten Weihnachtsgeschenk ersteht Nina das Gerät für 50 Euro und stellt sich das Gesicht ihres Schwarms vor, wenn sie ihm einen Gutschein für hundert verschiedenartige Burgergerichte (seine Leibspeise) überreicht, einzulösen im kommenden Jahr. Mission erfüllt, denken beide Frauen und fliegen förmlich aus der Tür des Kaffees, Jaqueline nach rechts, Nina nach links. Ihren Spiralisierer fest umklammert in der verschwitzten Hand, wirft Nina sich in die Menschenmenge auf der Mariahilfer.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 6
beitrag von: johannarosenleitner
Nina drängt Richtung Westbahnhof, weil sie da wohnt, gleich dahinter, noch in der Mariahilfer. Aber leider macht der Latte das, was er immer macht mit ihr. Er übt seine Macht aus über den Darm und baut Druck auf. Massiven Druck. Die nächste Türe sollte also dringend in Sichtweite kommen. Aber sie ist nicht da, denn man kann ja nicht einfach in den Bikini-Laden gehen und fragen, ob man mal kurz das WC benutzen dürfte, der Darm hätte da ein Bedürfnis. Warum hab ich nicht einfach einen Scheiß-Soja-Latte bestellt, denkt sich Nina und ärgert sich über die eigene Ignoranz sogenannter Lebensmittelunverträglichkeiten. Allein dieses Wort schon. Aber der Bauch ringelt sich innerlich auf und Nina drückt sich den Spiralisierer in die Darmgegend hoffend auf Linderung. Links und rechts gehen Menschen, alle scheinen zu genießen, weil sie plaudern oder gebrannte Mandeln in sich hineinfuttern. Nina stöhnt und beugt sich nach vorne, weil es diesmal ganz arg ist mit dem Bauch und sie richtig Schmerzen hat. Warum geht das immer so verdammt schnell? Und als sie den Kopf hebt, sieht sie ein Schild und hat die Idee. Der Fielmann. Brillen. Optiker. Dienstleistung. Die müssen ein Klo haben, auch für ihre Kundschaft. Und wenn sie sich danach eine Drei-Euro-Lesebrille kauft und vor dem Geschäft in aller Dekadenz in den Müll werfen wird: da geht sie jetzt rein. Nina kneift die Backen zusammen und wackelt verkrampft zur Eingangstür. Drinnen steht Nihad, der Optikerlehrling und wartet auf Kundschaft. Seine Beine sind viel zu dünn für die Hosen, die er trägt und der Chef verlangt ihm ein Hemd ab, das ihn zu einem Bubi macht und eigentlich hasst er Brillen. "Wo ist das Klo?" schreit ihn die Frau an, die hereinstürmt und er hebt seinen Arm und zeigt nach hinten links. Sie drückt ihm ein merkwürdiges, rundes Ding in die Hand und verschwindet.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 7
beitrag von: matthaeusbaer
Fassungslos starrt Nihad auf den Gegenstand in seinen Händen. "Das gibt's ja nicht", flüstert er. "Genau das Modell war's. Ein 'Rosenstein & Söhne', mit herausnehmbaren Edelstahlklingen." Aus der Kundentoilette dringen erbarmungswürdige Geräusche. Nihad muss sich setzen. Die Erinnerungen, die er jahrelang so vorsorglich verdrängt hat, brechen nun mit unbändiger Kraft über ihn herein. Er versucht die aufkommenden Bilder beiseite zu schieben. Zwecklos. Der Schneidemaschinenmotor surrt bereits in seinen Ohren. Die Angst, genau wie damals. Das Leuchten, die Schreie. Der brennende Baum! Mit all seiner verbliebenen Willensstärke holt sich Nihad zurück in die Gegenwart. "Nein!" Er ist stark, er wird daran nicht wieder zerbrechen! Die vielen Therapiestunden bei Frau Gepard sollen nicht umsonst gewesen sein. Er reißt sich die Fensterglas-Fake-Brille vom Kopf, die ihn sein Arbeitsvertrag zu tragen verpflichtet, schleudert sie zu Boden. Sollen sie ihn doch rausschmeissen, das hier ist wichtiger! Jackenlos stürmt er aus dem Laden. Den Spiralenschneider wie ein Neugeborenes an sich gedrückt rennt Nihad los. Bis zu Frau Gepard ist es nicht weit, wenn er sich beeilt, schafft er es ohne Panikattacke zu ihr. Vielleicht kann sie ihn einschieben, für eine Intervention. Sie muss. Immer hat sie behauptet, Nihad würde übertreiben, der Spiralschneider wäre eine Projektion seiner Mutterkomplexe. Aber jetzt hat er den Beweis! 'Rosenstein & Söhne'! Schweiß durchnässt sein Fielmann-Hemd, immer wieder muss er sich die zu große Hose raufziehen. Er hat Seitenstechen, sein Herz drückt gegen seine Rippen. Nur noch eine Querstraße. Da stolpert er über eine auf den Boden geworfene Burgerschachtel. Er schlägt hart auf den Asphalt, schmeckt sofort Blut. Die Maschine kullert ihm aus der Hand, schlittert noch ein paar Meter und bleibt zwischen zwei Cowboyboots liegen. Eine Hand greift danach. Nihad wird übel. Er kennt diese beringten Finger nur zu gut. Das kann kein Zufall sein!
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 8
beitrag von: idratherbeinbed_
Der Dichtercowboy hebt sich aus seiner Hocke, lässt die Finger klackernd über die Edelstahlklingen laufen und zieht eine davon heraus. Geschickt wechselt er seinen Zahnstocher vom rechten in den linken Mundwinkel, steckt die Klinge ein und wirft den Rest der Maschine in den Mistkübel. Über Nihad ist bereits eine Traube Menschen gebeugt, er sitzt an der Gehsteigkante und hält sich den Kopf. Als der Dichtercowboy an Nihad vorbeigeht, treffen sich ihre Blicke. Mit einer verabschiedenden Geste hebt er seinen Cowboyhut leicht an und geht in Richtung Museumsquartier weiter. Er kennt den jungen Mann noch aus der Zeit, als er mit dessen Mutter für ein Monat ausgegangen und regelmäßig zum Abendessen eingeladen war. Damals war Nihad 12 und der Dichtercowboy - bereits der Dichtercowboy. An einem ungewöhnlich menschenleeren Platz bleibt er stehen und sieht sich um. Einkaufende, Schlendernde, Wartende, mit einem flotten Dreh auf seinen Absätzen markiert er seinen Bereich und nimmt den Hut, den er verkehrt herum auf den Boden legt, von seinem Kopf. Wallendes, rotbraunes Haar weht ihm mit großen Ausfallschritten ins Gesicht. Zwei Schritte, ein tiefer Atemzug und eine hastige Armbewegung später ertönt auf der Mariahilferstraße feministische Naturlyrik:
Straßen Straßen Blumen Tiere
Bienchen Bäume Himmel Wald
MännerMännerMännerMänner
Versperren die Sicht.
Für einen Moment wird es ruhig und es formt sich ein Halbkreis um unseren Dichtercowboy. Den Zahnstocher zurück im rechten Mundwinkel dichtet er weiter:
Sogi sogtea sogi sogtea, daun hob i eam xogt
Sogi sogtea „geh“ sogi sogtea „gehweida“ daun hob i eam xogt..
In einem hypnotisierend, sinnlichen Tanz reimt er im Dialekt Poesie, so dass die Menschengruppe um ihn immer größer und größer wird. Die Menschen sind wie verzaubert von seinem Anblick und der Lyrik. Unter ihnen auch Thomas, neuer Leiter des Pistolen Verlags. Er braucht dringend frischen Wind im Verlagsprogramm, "Is he the one?", murmelt er leise.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 9
beitrag von: schreiberin
Als Applaus und Uuuuuuu-Rufe verklungen und ein paar Münzen in den Hut gewandert sind, nähert sich Thomas dem Dichtercowboy. „Hast du Interesse…?“ Weiter kommt Thomas nicht. Der Dichtercowboy nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und sagt: „Bei dir oder bei mir?“ „Was, nein, das ist jetzt ein Missverständnis, ich wollte…“ „Na dann!“ Der Dichtercowboy kramt die Münzen aus dem Hut, setzt ihn auf sein Lockenhaupt und tippt mit dem Zeigefinger auf die Krempe: „Salu!“ Sprichts, dreht sich um und geht. „Merde“, sagt Thomas und schaut ihm nach. Bis zu seinem Frisör-Termin im 1. Bezirk ist noch Zeit. Also bleibt er in der Unterführung Landesgerichtsstraße bei dem Restpostentischchen der kleinen Buchhandlung stehen und blättert in einem Bildband über Paris. „Herr Thomas“, tönt es hinter ihm. „Wie schön, dass ich Sie hier treffe! Haben Sie mein Manuskript schon gelesen?!“ Amalie ist mit ihrem ausladenden Hut und dem Fuchs über dem bodenlangen schwarzen Mantel eine eindrucksvolle Erscheinung. Thomas wird neben ihr noch kleiner als er ohnehin ist. „Äh, Grüß Sie, äh, nein, unsere Lektoren, wir haben gerade alle Hände voll zu tun…Sie wissen ja..vor Weihnachten ist das immer..." Amalie strahlt ihn an: „Ich verlass mich auf Sie! By the way, auch andere Verlage haben schöne Bücher!“
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 10
beitrag von: matthaeusbaer
Thomas will, um sich aus der Affäre zu ziehen, gerade so tun, als ob sein Telefon läute, da klingelt es tatsächlich. „Ah, sorry, meine Schwiegermutter!“, erklärt er und wedelt mit dem Smartphone. Amelie kommt einen Schritt näher. „Ach, Sie haben ihre Schwiegermutter unter ‚Dr. Swaboslav, Urologe‘ eingespeichert?“ Sie zeigt aufs Display. Peinlich berührt windet sich Thomas unter ihrem Blick und verschwindet in einer Seitengasse. Amelie seufzt, setzt ihre Pfeife in Brand und nimmt einen tiefen, entspannenden Zug. Scharfer Tabakgeruch umhüllt sie und brennt den Umstehenden in den Augen. Amelie macht sich keinen Sorgen. Sie hat schon so viele Schreibworkshops als Klassenbeste abgeschlossen, es findet sich mit Sicherheit ein Verlag für ihren Roman. Das Manuskript ist bombe, das weiß sie, das ist eine Tatsache. Ihr geht es hauptsächlich um die Höhe des Vorschuss, die acht Monate in Lima finanzieren sich ja nicht von selbst. Da hätte der jämmerliche Pistolen-Verlag ohnehin nicht mithalten können. Amelie wirft den Fuchs über die Schulter, lässt ein paar Rauchringe steigen und schlendert los. Der Mond steht hoch über dem Platz der Menschenrechte, die letzten Glühweinstandbesucher torkeln beseelt nach Hause. Vor der übermenschlichen Maria Theresia zwischen den Museen bleibt Amelie stehen und pfeift durch ihre Zahnlücke. Raben flattern davon und ein Mann schält sich aus der dunklen Figurengruppe der bronzenen Kaiserin. „Du kommst zu spät“, sagt er und streicht sich das hüftlange Haar aus dem Gesicht. Sie lacht nur. „Uhren sind die Geißeln unserer Zeit, Marvolo, das sagst doch du sonst immer ... und, hast du alles dabei?“
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 11
beitrag von: Kaulboy
„Die Bootschuhe, die Ingeborg Bachmann im August 1953 anprobierte und der dazugehörige Schuhlöffel“, Marvolo drückt Amalie die Tüte in die Hände und innerlich aufs Gaspedal.
Einige Minuten später sitzt Marvolo im hinteren Bereich des Gold Dragon so, dass er die Eingangstür im Blick hat.
Rechts von ihm steht ein leeres Aquarium, hinter ihm Yuzuki Shirane im seidenen Gewand. Sie sind alleine. Im Hintergrund läuft Franz Liszt. Yuzuki Shirane, um die zwanzig, kämmt Marvolo mit einem selbstgebastelten Werkzeug aus Essstäbchen die Haare. Seine Wollmütze hat Marvolo trotzdem nicht abgesetzt.
Er zählt das Geld von Amalie zum dritten Mal. Nicht, dass er nachzählen müsste, es handelt sich um zwei Fünfhundert-Euro-Scheine. Marvolo hält sie einfach nur gern in den Händen.
Er legt das Geld auf den goldenen Tisch und zieht die Oberlippe in seinen Mundraum. Marvolo fragt sich, ob er seinen Kodex gebrochen hat: Zivilisten über siebzig nicht verarschen. Klar, so alt war die Alte nicht. Es tut gut, wie ihm Shiro die Haare kämmt. Ganz zurechnungsfähig allerdings schien..
Die Tür geht auf, Abu Flachmann betritt das Lokal. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend.
Marvolo, sagt er, du musst mal kurz mitkommen.
Marvolo nickt. Das Nicken gilt Yuzuki Shirane und Abu Flachmann. Er steht auf und begleitet seinen Freund nach draußen. Für einen vielleicht ganz kurzen Moment denkt Marvolo: ich werde sterben. Ich bin nicht bereit.
Yuzuki Shirane erwägt die Ladentür abzuschließen. Sie blickt zum Tisch: der Hauch von Lila steht ihm gut.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 12
beitrag von: christiane_hanna
„Meinst, ich muss gleich sterben?“ haucht Marvolo, nachdem sie in Abu Flachmanns Auto eingestiegen sind. Der kennt das schon mit dem Unterzucker seines Liebhabers, reicht dem zitternden Marvolo eine Cola und streicht durch seine Haare. „Nein, das weißt du doch. Es geht wieder vorbei. Wie sonst auch.“ Abu lässt den Motor an und die beiden hauen ab. Nach Italien. Endlich. Für immer.
Und Yuzuki Shirane ist froh, dass ihr Freund Marvolo endlich mal seinen Anteil der Miete gezahlt hat. Unter den Umständen kann man das Gold Dragon jetzt tatsächlich schließen, ist eh nix los. Von wegen „kurz mitkommen“. Das sagt dieser Abu jedes Mal und tut dabei so elend, denkt Yuzuki abschätzig. Ausreden. Was auch immer die zwei da treiben, es dauert in der Regel bis zum Morgengrauen. Sie hat also Zeit. In der Wohnung, die in der Pacht des verlustreichen Restaurants enthalten ist, zieht sich Yuzuki nach einem Telefonat um und verschwindet dann aus der Hintertür des Gebäudes in Richtung Donau. Dort hat ihr heimlicher Geliebter Hias ein Bootshaus. Mit Sauna und Kamin, für Winternächte wie diese.
Yuzuki, voller Vorfreude, ist stürmisch unterwegs und der Boden glatt vom Eisregen. Vor einer Stunde hat er eingesetzt. Sie schlingert über das Eis, gleitet über die Kante und rutscht die Wände der kanalisierten Donau hinab.
Das Wasser ist extrem kalt, Yuzuki erstarrt darin. Vollkommen geräuschlos sinkt sie auf das Flussbett und ertrinkt. Schörghuber, der gerade patrouilliert und die letzten Sekunden des Vorfalls beobachtet hat, traut seinen Augen nicht. Würde er zufällig einen Blick auf die Wände des Kanals werfen, könnte er die symmetrischen Spuren sehen, die Yuzuki Shiranes Fingernägel auf der moosbewachsenen Betonoberfläche hinterlassen haben. Dann wüsste er, dass er nicht spinnt. Aber das tut er nicht. Er denkt stattdessen, er spinnt. Nicht zum ersten Mal. Allerdings zum ersten Mal will er jetzt die Konsequenzen ziehen. Er beschließt, sich Hilfe zu holen ...
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 13
beitrag von: matthaeusbaer
So kann es nicht weitergehen. Seit Jahren schon redet er sich ein, dass es besser wird. Aber nichts wird besser. Eher schlimmer. Seine Kollegen, seine Frau, sein Liebhaber, alle sagen sie ihm, er muss etwas unternehmen. Einen Anfang machen. Den ersten Schritt setzen. Nur was genau er tun soll, sagen sie ihm nicht. Schörghuber zieht die Nase hoch und rotzt auf den Asphalt. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit. Weiße Mäuse, rosa Elefanten, okay! Aber jetzt sieht er schon Geishas im Wasser treiben. Da ist auch für Schörghuber eine Grenze überschritten. Er fummelt den zerknitterten Zettel aus der Jackentasche, den ihm Jorge nach dem letzten Stelldichein zugesteckt hat. "Ruf da an", hat er gesagt. "Dann weißt, was Sache ist." Schörghuber tippt die fremde Nummer in sein Seniorenhandy. Übergroß flimmern die Zahlen auf dem Display und bringen sein unrasiertes Gesicht zum Strahlen. Nach dem ersten Läuten knackt es in der Leitung. "Schörghuber!", sagt eine Stimme. "Endlich." Schörghuber ist verwirrt. "Äh, hallo? Wer spricht denn da?" "Aber Roland", säuselt es ihm entgegen, "das liegt doch auf der Hand. Ich bin's, Elouise, vom Wahrsageinstitut Montschegorsk." Schörghuber schluckt. "Wie bitte? Was soll das? Wer sind Sie?" "Sei nicht so ungeschickt, Roland, wir wissen doch beide, worauf das hinausläuft. Wenn du hören willst, wie du aus dem Schlamassel rauskommst, stell dich in exakt 23 Minuten unter die Augartenbrücke, Donaukanal Westufer. Du weißt schon, beim Flex. Du erkennst mich an den Sneakern. Bis gleich!" Einige Augenblicke lang hört Schörghuber noch dem stillen Rauschen aus dem Telefonlautsprecher zu. Dann zieht er den Kragen hoch, verwünscht diese angebrochene Nacht und nimmt sich ein Citybike, um langsam flussaufwärts zu radeln.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 14
beitrag von: idratherbeinbed_
Mit gesenktem Haupt und blinzelnden Augen hält Schörghuber Ausschau nach Turnschuhen. Sneaker tragen alle und gedämpfter Drum 'n' Bass drückt sich aus dem Flex. Langsam schlängelt sich Schörghuber zwischen den dunklen Gestalten durch, mit seinem Seniorenhandy in der rechten Hand umklammert er den gerippten Lenker, während die Beine langsam das Fahrrad weiter stoßen. In nicht zu weiter Ferne bewegen sich blinkende Schuhsohlen nervös auf und ab. Er bleibt stehen aber steigt nicht ab, "Elouise?" "Schörghuber, da bist du!" "Woher wissen Sie, wer ich bin?" "Ich mach es kurz, hör genau zu und dein Leben wird sich verändern: die vier Aspekte des Wohlbefindens, die dir dabei helfen, dich glücklicher und gesünder zu fühlen.." "Ned scho wieder." Schörghuber stößt sich diesmal kraftvoll ab, knallt fast in einen anderen Sneakerträger und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht. Elouise kaut ihren Kaugummi mit offenem Mund und schüttelt die Probepackungen der Vitamintabletten in ihrer Jackentasche, während sie das rote Rücklicht verschwinden sieht, "Schörghuber, komm zurück, Schörghuber! …Scheiße." Auf dem Weg zurück in den Wurstelprater raucht sie nervös an ihrem Juul. Über den Hintereingang steigt sie in den handgeschnitzten, nostalgischen Wohnwagen und wirft sich mehrere Lagen an Seidentüchern und schweres Parfum über. Es ist Lange Nacht der Liliputbahn und der Wurstelprater bleibt bis in die Früh geöffnet. Der Wohnwagen füllt sich mit dem süßen Dampf des inhalierten Juul und Elouise entsperrt alle paar Sekunden ihr Handy. Plötzlich geht das Licht aus. Diese Stromausfälle bringen Elouise schon lange nicht mehr aus der Fassung, meistens ist es das Tagada, wenn Lichter und Musik gleichzeitig angemacht werden. Mit einem Flackern erhellt sich der Raum wieder und ein Mann mit schwarzem Zylinder und einem Cape mit roter Scherpe thront auf dem gepolsterten Sessel vor ihr. "Elouisssthh", zischt er, "vom Wahrsageinstitut Montschthhegorsk", lispelt er. "So sehen wir uns wieder."
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 15
beitrag von: matthaeusbaer
"Ach, Ranko, spar dir deine peinlichen Auftritte für die Touristen! Du weißt genau, ich hab' die Miete noch nicht zusammen. Wenn ich heut was eingenommen hätte, wär ich doch noch nicht zurück in diesem Grindwaggon. Und nein ...," sagt sie bevor er fragen kann, "... du bekommst das Glasauge nicht als Pfand! Ein für alle mal, das bleibt, wo's ist!" Enttäuscht schiebt Ranko die Unterlippe vor. "Und dein Lispeln ..., puh, einfach erbärmlich!" Elouise bringt die Hände in "Männchen"-Haltung und wackelt demonstrativ un-gruselig mit den Fingern. "Elouisssthh", äfft sie ihn nach. "Echt peinlich! Ein Nosferatu mit Schlaganfall wäre erschreckender als das." Ranko wendet sich ab. So eine Standpauke hat er nicht verdient. Was kann er dafür, dass Elouise so eine miese Wahrsagerin ist? Klar, sie war begabt. Schon als Kind ging sie zum Telefon, bevor es läutete, oder wusste, welche Kindergartenkollegin sich als nächste einnässen würde. Aber was hatte sie draus gemacht? Sie hätte DER aufgehende Stern einer ganzen Branche sein können. Hätte mit Leichtigkeit alle Baba Wangas in den Schatten gestellt. Talent allein reicht aber eben nicht. Weiche Drogen, harte Worte und eine ihm schleierhafte Vorliebe für eingelegten Fisch haben das Übrige getan. Jetzt sitzt sie in einem ramponierten Wohnwagen und lädt ihren Frust an ihm ab. An ihm, einem, wie er selbst weiß, nur mittelmäßigen Vampirimpersinator. Aber das muss er sich nicht bieten lassen. Immerhin ist das sein Wohnwagen, ein Familienerbstück, von den Händen seines Ururgroßvaters Vlad gezimmert. Ranko springt auf, schiebt sich die falschen Zähne wieder ins Gebiss. "Bissth morgen", sagt er und hält ihr den ausgestreckten Finger vor die Nase. "Elf Uhr, issth das Geld da. Oder du bisstht draußen. Ein für alle mal." Behende springt er aus dem Wagen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, Minverva wird nicht ewig am Wasser warten. Eine Böe weht ihm den Zylinder vom Kopf und die Hauptallee hinunter. Ranko flucht und flattert mit den Armen.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 16
beitrag von: fridolin
Unter eleganten aerodynamischen Voraussetzungen kann ein um die eigene Achse rotierender Hohlkörper Spitzengeschwindigkeiten bis zu achtzig Stundenkilometer erreichen. Auf Asphalt. Der Hohlkörper Zylinder schafft im Augenblick zwar nur zwanzig, wirbelt dabei aber dermaßen geradlinig die Hauptallee davon, als gelte es, seinem Besitzer so schnell wie möglich zu entkommen. Hätte das verdammte Ding eine Zickzack-Flucht mit zehn Stundenkilometer gewählt, wäre Ratko ihm dennoch nicht nachgelaufen. Mehr als Fluchen und Flattern ist nicht drin.
Der Zylinder passiert – ohne Verschnaufpause - in den nächsten Minuten:
Küssende.
Fluchende.
Angeleintes.
Umgehängtes.
Sehr Beschämendes.
Unangenehm Selbstsicheres.
Am Ende ein gar Hündchen, das nach ihm schnappt.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 17
beitrag von: RaffaElla
Woher ein so kleines Hündchen, selbst kaum größer als ein Meerschweinchen, die Motivation nimmt, sich dermaßen anzustrengen, nur um einem Zylinderhut nachzujagen, ist und bleibt ein Rätsel.
Klein-Hündchen jedenfalls bringt es zu einem rekordverdächtigen zwanzig Stundenkilometerhochgeschwindigkeitslauf. Ein Meerschweinchenhund ist kein Jogger. Seine kleinen kurzen Stummelbeinchen ziehen sich wegen des Asphalts der Hauptallee innerhalb von Sekunden Blasen zu, weshalb es - das Hündchen - zu springen beginnt. Es schnappt nach dem Zylinderhut, einmal, zweimal, ein Sprung noch- dreimal.... plötzlich aber dreht der böige Wind. Der Hut wechselt mit einer eleganten Pirouette seine Richtung und zischt die Hauptallee wieder zurück, vorbei an all dem, was ihm kurz zuvor passiert war. Hündchen hintennach, vorbei an einem laut singenden jugendlichen Möchtegernrapper, vorbei an einer am Boden liegenden Frau, die gerade ihr Pappschild mit der Aufschrift "Ich habe Hunger Hilfe Bitte" unter ihren Kopf legt, vorbei an Ratko, der ihnen staunend nachschaut.
Hündchen ist schon halbtot, der Zylinder immer noch Ziel seiner unerklärbaren Begierde, die übrigens so stark ist, dass weder das goldglänzende Medaillon auf dem Hundehalsband, noch die süße, angeleinte Besitzerin desselben seine Aufmerksamkeit hätte stehlen können. Die Aufmerksamkeit ihres Herrls wiederum, hatte die Hundefrau zumindest vorübergehend auch verloren. Dieser ist küssend hinter einem Busch verschwunden. Es ist und bleibt ein Rätsel, warum genau bei diesem Busch die Zylinderjagd ein Ende findet. Hündchen versucht einmal noch mit allerletzter Kraft nach dem Hut zu schnappen, springt hoch und höher, als ein neuerlicher Windstoß den Zylinder einen Haken schlagen lässt, um dann von der Dämmerung des Praters verschluckt zu werden.
Hündchen sieht kurz zwei Menschenkörper von oben, setzt zum Sturzflug an und prallt letztendlich direkt vor dem Kuss des Liebespaares mit einem lauten Klatsch auf den Boden.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 18
beitrag von: schreiberin
Im Reflex tritt die Küssefrau mit den hohen Absatzschuhen nach dem Meerschweinhündchen, das jaulend davonsaust, wie eine in der Flasche abgebrannte slowakische Neujahrsrakete. Der Schwung des Tritts bringt auch das Paar aus der Balance. Was ein neujahrskonzertwürdiger Pas de deux werden könnte, Frau beugt sich anmutig zurück, Herr neigt sich beschützend und stützend über sie, endet in einer widerlichen Balgerei in der Pfütze, die trotz des Windes immer noch nicht aufgetrocknet ist. Frau stößt den patscherten Herrn von sich, der, verdattert, greift nach ihren Armen, versucht heldenhaft, sie aus dem Dreck zu ziehen, Frau entwindet sich den Armen und stößt ein wütendes „Lass das!“ aus. Herr, von oben bis unten mit Gatsch besudelt, geht einen Schritt zurück, hebt beschwichtigend die Arme, sagt: „Liebes, ich will doch nur…“ Frau kreischt, Herr nähert sich mit ausgebreiteten Armen, versucht, Frau zu greifen, sie zu beruhigen. Frau wehrt sich, schlägt mit den Armen windmühlengleich nach dem Herrn. Ein Jogger, der sich vom Lusthaus her nähert, hebt die ultimative smarte Läuferuhr an die Lippen, sagt atemlos „133“ und „Überfall Prater Hauptallee, schnell“, läuft weiter, weil er hat heute einen guten Tag und will sich den sensationellen Kilometerschnitt nicht durch das Warten auf die Praterpolizei versauen.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 19
beitrag von: johannarosenleitner
Der Läufer läuft. In Bestform. So kann das Jahr zu Ende gehen, mit diesem Schnitt und dieser Fitness ist er zufrieden. Jetzt nur noch die Feiertage überstehen, denn da lauern die Kekse und die Braten. Aber er wird es schaffen. Die Luise will einen sportlichen Mann, das hat sie einmal gesagt. Er merkt sich sowas. Bald ist er zuhause, dann wird er einen Salat bereiten für sich und die Luise. Ein Soda Zitron dazu und dann gemütlich vor den TV. So stellt man sich den Sonntag doch vor. Da die letzte Kurve, die Böcklinstraße liegt schon vor ihm, der schöne Altbau wird schon sichtbar. 4:50 - ein Schnitt zum Feiern! Heute gibt’s Feta als Topping! Er öffnet die Türe, springt schon etwas ermüdet die Treppe in den zweiten Stock, da geht die Wohnungstüre auf und Luise kommt heraus. Hinter ihr ein Koffer groß wie ein Schrank, den sie mühsam durch den Türstock quetscht. Sie sieht ihren Läufer und freut sich, Timing gut berechnet. „Ich gehe,“ sagt sie in sein staunendes Gesicht. „Ich fahre nach Hause, nach Linz.“ Der Läufer starrt nur, zu viele Fragen auf einmal im Kopf. „Ich bleibe mal drei Tage. Dann sehen wir weiter.“ Luise zerrt den Koffer an ihm vorbei. Immer noch haben sie keinen Schlüssel für den Lift, weil Herr Läufer nicht mehr Betriebskosten zahlen will. Wer schleppt wohl immer die Einkäufe nach oben? „In Linz,“ schnauzt ihn Luise noch an, „da läuft wenigstens keiner vor mir davon!“ Dann plagt sie sich weiter hinunter, von ihm weg. Als sie die Haustüre aufmacht, hört sie von oben:“Der Koffer ist viel zu groß für drei Tage!“ Luise stöhnt. Aber eigentlich hört sie schon nicht mehr richtig zu. Sie lässt den Koffer die Stufen vor dem Haus hinunterrollen, während hinter ihr die Türe ins Schloss fällt.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 20
beitrag von: schreiberin
Vor dem Haus steht ein Taxi. „Das ist ein Zeichen“, freut sich Luise und greift nach dem Türgriff. Da vernimmt sie das "Klock,lock" der Schlösser, das grüne „Frei“ springt auf rot „Besetzt“, und der Taxler fährt mit quietschenden Reifen davon. „Vollkoffer“, brüllt Luise. Sie hat Mühe, den schrankhohen Rollkoffer zurück auf den Gehsteig zu bugsieren. „Vollkoffer-Rollkoffer“, kommt ihr in den Sinn. Das findet sie jetzt doch irgendwie witzig. Luise entspannt sich und besinnt sich ihrer schamanischen Erfahrungen. Sie konzentriert sich, lenkt ihre Gedanken, und schon rollt der Koffer vor ihr her, hält bei rot, rollt bei grün, die Entgegenkommenden weichen aus, links, rechts, und Luise spaziert hinter dem Ungetüm drein. Jetzt ist sie schon beim Schwarzenbergplatz. Bei der Mariahilfer hinauf wird es mühsam. Alle paar Meter bleibt der Koffer stehen, und Luise muss die Hände an die Schläfen legen und die Augen schließen und „Roll, mein Guter, roll“, sagen, immer wieder, bis sie oben ist beim Café Westend und über den Gürtel zum Westbahnhof. Mittlerweile folgt ihr eine johlende Meute. „Roll, roll, roll mein Guter“, skandieren die Leute. Als sich die Glastüren des Eingangsportals automatisch öffnen, dreht sie sich noch einmal um und lächelt und winkt. Im Lift hat außer ihr und dem Koffer keiner mehr Platz. „So sorry“, ruft sie den Wartenden zu, dann ist sie schon eine Ebene höher und auf ihrem Bahnsteig. Zwei Männer zerren den Koffer in den Waggon und zurren ihn fest. Luise lässt sich erschöpft auf den Sitz fallen. Kurz vor Tullnerfeld nimmt sie ein Rumoren wahr. Wie von Geisterhand löst sich der Gurt und ihr Koffer rollt zur Tür, und als der Zug stehen bleibt, kugelt er über die Stufen und Luise hinterdrein. Verdattert sitzt sie auf dem Bahnsteig. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Der Wind streicht über die Weiten der Ebene. Da steht plötzlich ein befrackter grauhaariger Hüne vor Luise und sagt: „Mir scheint, Sie sind angekommen, Madame?!“
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 21
beitrag von: idratherbeinbed_
Am Tisch wird angestoßen und die Gäste nehmen einen kleinen Schluck des sprudelnden Champagners. Luise sitzt in ihrer Winterjacke zwischen dem Hünen, Vlad, und einem Mann mit schmalem Oberlippenbart. Er beugt sich lachend zur rechten Seite, während er nickend und mit zusammengekniffenen Augen der Dame neben ihm zustimmt. Luises Glas klirrt immer noch. „Gehen Sie hoch und ziehen Sie sich um, Diane von Fürstenberg hat Ihnen ein Kleid geschneidert, das für diesen Anlass getragen werden soll.“ Luise folgt der Bitte und verschwindet die Treppe hoch. Vlad entfernt sich von der lachenden Gruppe–sie scheinen nichts anderes zu tun, als sich gegenseitig zuzulachen, wie Holzfiguren in einer Geisterbahn, die sich mit den mechanischen Bewegungen des Motors drehen. Er tritt raus in den Garten. Durch das Fenster sieht er, wie Luise das Kleid hochhebt und an ihren Körper legt. Es passt wie angegossen. Wie sie zu ihm. Das magische Vortex, das durch die diametrale Ausrichtung Jupiters, Saturns und der Erde für zwei Sekunden geöffnet wurde, hat Vlads mantrische Offenbarungen ans Universum aufgesogen, als Luise sich im selben Moment einen Mann ersehnt hat, der nicht vor ihr wegläuft. Die Hochzeit wird stattfinden, das weiß Vlad mit Sicherheit. Eine Wolke schwebt vom Himmel herab und verteilt sanften, die Wiese bedeckenden Nebel. Einen Augenblick später hält Vlad Luises Hände zärtlich in den seinen und haucht ein gefühlsbetontes „Ich will.“, bevor er sich zum Kuss beugt. Ein festes Rütteln lässt Vlad aufschrecken. Links und rechts tuscheln Studierende und die Frau im bedruckten Wickelkleid gegenüber rollt ihre Augen. Der Moment der Verachtung ist sofort wieder verklungen und eifriges Tippen ist von allen Seiten zu hören. „Du solltest mal an die frische Luft, sonst schaffst du die Medizinprüfung nie, wenn du hier nur schläfst.“ Richard dreht sich noch um und beobachtet, wie Vlad aufsteht und langsam seine Sachen zu einem Berg türmt, doch er muss schnell weiter zum Bibliotheksschalter.
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 22
beitrag von: matthaeusbaer
Auch Richard verlässt die Bib. "Scheiß Medizin." Nur weil sein Vater ein anerkannter Kremser Ohrenarzt ist, muss er sich nicht auch mit ekelhaft kranken Menschen abmühen. Richard will sich doch viel lieber um seine Netsuke-Sammlung kümmern. Am Liebsten hat er die feinen, kleinen, aus Jadestein geschliffenen. Jeden Morgen poliert er sie, zärtlich, als wären es seine Kindchen. Seine Schutzbefohlenen auf dem Hay-Sideboard. Richard zieht den Mantel enger und geht los. Raus aus dieser Uni, raus aus diesem Leben. Er träumt von Yves Klein und Café Lattes, von Moleskin-Heften und 70er-Jahre-Bademode. Ach. Aisha hat das nie verstanden. Deshalb hat das mit ihnen ja auch nicht funktioniert. Fast, also beinahe, hätte er sie schon seiner Mutter vorgestellt. Aber dann wollte sie wieder einmal lieber online Sneaker shoppen, als sich mit ihm über diese tolle Arte-Doku zu unterhalten. Und da war es ihm klar. Dass sie keine Zukunft haben. Und Zukunft ist etwas, das er unbedingt braucht. Je mehr Zukunft, desto besser. Das war mit Aisha einfach nicht möglich. Da hat er dann die Konsequenz gezogen. Back to the future, sozusagen. Aber nun ist Aisha Vergangenheit, und das ist gut so. Er hat es gern ordentlich. In seinen Regalen, und in seinen Angelegenheiten. Es würde alles durcheinander bringen, was er gerade erst so mühsam sortiert hat, wenn Aisha jetzt mit ihren schrillen Schuhen aus der Vergangenheit in seine Gegenwart kreuzen würde. Nicht auszudenken. Doch zum Glück ist Aisha mehr als Vergangenheit, fast schon Plusquamperfekt. Richard setzt sich auf eine Parkbank und überlegt ein Buch zu schreiben. Die Tauben tummeln sich um ihn, er genießt die Wintersonne. Da fliegen die Vögel auf, die Sonne verdunkelt sich, und ein Paar pervers leuchtende Sneaker stehen plötzlich vor ihm. "Hallo, Richard. Schön dich zu sehen."
advenire - vom Kommen und Gehen, Folge: 23
beitrag von: idratherbeinbed_
„A-Aisha?“, stammelt Richard. Sie wischt sich das schwarze Haar aus dem Pelzkragen und lächelt ihn an. „Ich weiß, du möchtest nicht mit mir reden. Aber..“ „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass dieses Nivellieren mit ‚Aber’ vollkommen daneben ist?“ So schnell konnte Aisha gar nicht antworten, wie sich Richard, erbost mit rotem Gesicht, stampfend aus dem Staub gemacht hat. Derweil wollte sie ihm endlich erzählen, dass sie ihren Job im Sneakers-Laden gekündigt hat und ab nächstem Jahr in Portugal als Surflehrerin arbeiten wird. Sei es darum, bis zum Umzug muss sie noch drei Mal Kunden betreuen und eine dieser Schichten beginnt bereits in einer Stunde. Auf dem Weg zur Mariahilferstraße entscheidet sie sich noch für einen to-go Flat White, um sich in der verbleibenden halben Stunde zu beschäftigen. Während sie in der Schlange steht, bemerkt sie eine junge Frau, die vor ihrem Laptop sitzt. „Einen Flat White bitte mit Hafermilch und einen von den Muffins dazu.“ Während der Barista die Milch schäumt bewegt sich Aisha in Richtung der Frau, sie scheint die Umgebung um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen und ist komplett in ihrer Arbeit versunken. Tippend, ruhend, tippend sitzt sie an ihrem kleinen Tisch. „Ob sie wohl auch eine Schriftstellerin ist? Wie Richard es immer sein wollte? Er war immer so gut mit den Wörtern und sie hat sie in Stresssituationen immer falsch verwendet“, denkt sie und versucht so unauffällig wie möglich zu bleiben. Aisha geht an der Theke entlang. „Der Flat White und der Muffin zum Mitnehmen!“ Der Barista hält eine kleine Papiertüte in Aishas Richtung. Auf dem Weg nach draußen erhascht Aisha einen Blick auf den Bildschirm und schafft es gerade noch, die ersten beiden Zeilen mitzunehmen: „Die Tür geht auf. Ein junger Mann tritt ein. An seinem Bart hängen Schneeflocken, die gleich zu Tropfen..“