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geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: magnavirtus

Reiterei

HInauf aufs Roß / & hinab in den Paß
Gelaufen kommen sie / schon vom Parnaß
In lieblichem Grau / in bräutlichem Weiß
Gepflogen bügeln / die Flegeln die Fohlen
Beschwingt bespringt / die Stuten die Kunst

review von: ondřej cikán

Danke für Ihren Beitrag! 
Das Gedicht ist klanglich hübsch, aber das Bild mit den Reitern und Pferden irritiert mich doch sehr.
Was auch immer man schreibt, es kann verschiedene Assoziationen wecken. Deswegen ist es ratsam, beim Schreiben verschiedene Möglichkeiten der Interpretation durchzuspielen. Extrembeispiel (trifft nicht auf Ihr Gedicht zu, keine Sorge, ist nur ein Beispiel): „Ich steige durch den Schornstein in den Himmel, werde zur Wolke etc.“ Jetzt kann der Vers noch so gut eingebettet sein, mir drängt sich aufgrund des Schornsteins halt ein Krematorium im KZ auf (wie gesagt, Extrembeispiel zur Veranschaulichung). Wenn man das erreichen will, ok. Wenn man das aber nicht beabsichtigt, sollte man sich was einfallen lassen.

Ich gehe nun Ihr Gedicht durch, und schreibe nach und nach, welche Assoziationen die einzelnen Halbverse in mir wecken:
Hinauf aufs Roß = Soldaten, Husaren ziehen in die Schlacht
Hinab in den (auf den?) Paß = die Feinde sind weiter unten, überqueren wohl ein Gebirge
Gelaufen kommen sie = die Pferde? Die Reiter laufen ja nicht, wenn sie im Sattel sitzen
Schon vom Parnaß = ach so, es waren Künstler auf dem Parnaß, und jetzt entfernen sie sich von den Musen und landen irgendwo in der Versenkung, und wahrschleinlich sind die Pferde die Künstler
In lieblichem Grau = schönes Bild, die Pferde sind grau, die Uniformen, das Morgengrauen, die Gesichter im Kater nach durchzechter Nacht (Künstler eben, kenn ich)
in bräutlichem Weiß = ok, vielleicht geht es um Unschuld oder so, vielleicht sind auch Schimmel dabei, vielleicht soll das Weiß etwas verbergen, vielleicht kommt es bald zu einer Hochzeitsnacht (juhu)
Gepflogen bügeln = wie bitte? Im Sinn von „Gepflegt bügeln“ oder von „[sie] pflegen zu bügeln“? Das klingt nicht nach Archaismus, sondern eher ungeschliffen. Waren es also weiße Hemden, die die Künstler/Husaren da anhaben? Kommen jetzt ihre bügelnden Ehefrauen oder Mütter ins Spiel? Oder bügeln sie selbst? 
Die Flegeln (nicht lieber Flegel? Nominativ) die Fohlen = Jetzt wird es eine Spur grauslich. Die Flegel (Grobiane oder Dreschflegel) „bügeln“ die Fohlen? Soll das heißen, dass diese Leute kleine Kinder, die vom Sprecher (!) mit Nutztieren (Fohlen) verglichen werden, so lange mit Flegeln prügeln, bis sie gleichsam flachgebügelt sind??
Beschwingt bespringt = Jetzt soll wahrscheinlich was Lustiges kommen
Die Stuten die Kunst = Jetzt ist der Nominativ an zweiter Stelle. Haben vorhin also die Fohlen die Flegel gebügelt und nicht umgekehrt? Die Stuten werden von der Kunst besprungen? Die Soldaten vom Anfang nehmen sich also auf unkeusche Weise ihrer Pferde an? Oder bespringen die Hengste der Künstler die Stuten der Feinde, wie es die Hengste der Kreuzritter mit den Stuten der Sarazenen getan haben? Sind mit den Stuten Frauen gemeint? Hoffentlich nicht. Oder bespringt die Kunst ihre Stuten wie die Revolution ihre Kinder frisst? Wahrscheinlich wollte nur jemand lustig sein. Naja.

Sie sehen, dass besonders Ihre letzten beiden Verse in die falsche Kehle geraten können. Auf sowas muss man meines Erachtens sehr aufpassen. Besonders gefährlich sind diesbezüglich kriegerische Bilder und Tiervergleiche. 
Außerdem ist der Klang nicht alles: die Wörter „Hinauf“ – „Gelaufen“ korrespondieren schön durch den Binnenreim, aber das Wort „Gelaufen“ passt halt inhaltlich nicht und stört das Bild der Reiter.

***

Zur Sicherheit noch eine Anmerkung zu den Schrägstrichen. Sie verwenden sie, um die Verse in zwei Hälften zu teilen. In der Barockzeit (und Artmann hat es aus der Barockzeit übernommen) ersetzen sie einfach die Beistriche.

***

Machen Sie auf jeden Fall weiter. Das Genie ist der Fleiß.
Alles Liebe,
OC.
samya hamieda lind sagt
08.06.2021 10:52
etwas, was mir an ihrem text als bedeutsam erscheint ist, das sie mehr fragen öffnen als antworten anbieten.
das lädt mich ein zu bleiben. für mich macht das die lust zu lesen aus. merci.
Andrea Nagy sagt
13.06.2021 15:44
Chère Samya: C'est pareil pour moi. Merci à vous. A.N.
ondřej cikán sagt
19.06.2021 15:29
comme vous voulez. Le bon chevalier fait le bon cheval. Et surtout: C'est le cheval qui va à la mangeoire ...
Andrea Nagy sagt
25.06.2021 09:47
parbleu ! ça ne se trouve pas sous le pas d'un cheval …