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geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: Lydula

Ukončete, prosím

beenden sie bitte den einstieg und ausstieg
die türen schließen
nirgendwo sonst so charmant 
wie in meiner erinnerung

im heliozentrischen weltbild umkreisen
wir jungen menschen
uns und einander gebannt
das gemeinsam erkundete

getönt von den goldenen gläsern der brille
fast unerträglich
leicht nimmst du mich bei der hand
von der menge verschlungen sind

gefährten, der glockenschlag kündet von abschied
ein freund kommt schließlich
über den bahnsteig gerannt
dveře se zavírají

review von: ondřej cikán

HA! Ukončete prosím výstup a nástup, dveře se zavírají – Diese von einer sympathischen Frauenstimme eingesprochenen, in ihrer Poetik und in ihren Kontrasten der Vokale fast unübersetzbaren zwei Sätze, die seit jeher bis heute jedes Mal erklingen, wenn die Türen der Prager U-Bahn sich schließen, sind wahrscheinlich das erste Gedicht, das man als Prager auswendig lernt (sofern man nach der Eröffnung der dortigen U-Bahn geboren wurde). 

Allein schon, dass die Stimme aus der Konserve sich die Zeit nimmt, ganz langsam zwei ganze Sätze samt „bitte“ zu formulieren, ist in deutschsprachigen Breiten, die inzwischen traurige Imperative oder Verbote wie „Zurückbleiben bitte“ und „Steigen Sie nicht mehr ein“ gewohnt sind, ein tatsächlich höchst „charmantes“ Phänomen. 

Zum Gedicht selbst: Ja, die Anspielung auf Kunderas „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ ist da – kombiniert mit der U-Bahn-Ansage, kombiniert mit einem Moment auf dem Bahnsteig, kombiniert mit der schlichten Andeutung einer Liebesgeschichte – und nicht zuletzt mit etwas Kosmischem, das diesen Bahnsteigmoment auf eine höhere Ebene hebt („im heliozentrischen weltbild“). Das ist schön.

Auf ersten Blick hatte ich Einwände zur Gliederung des Gedichts, aber die spare ich mir. Es funktioniert schon.

Geblieben ist: 
1) „…umkreisen / wir jungen menschen / uns und einander gebannt …“ –– „einander gebannt“ irritiert mich: nicht lieber „voneinander gebannt“ o.ä.?

2) „getönt von den goldenen gläsern der brille“ –– es genügte: „getönt von goldenen gläsern der (einer?) brille“. Zu viele Artikel verderben den Brei.

3) der einzige Beistrich im ersten Vers der 4. Strophe wirkt unbeholfen. Wär nicht besser etwas wie: „gefährten von der menge verschlungen // der (ein?) glockenschlag kündet von abschied“ 

4 und nicht zuletzt: vielleicht lieber in Vers 2: „die türen schließen sich“ für „dveře se zavírají“? In Deutschland sagt man vielleicht irgendwo intransitiv „die Türe schließt“. Aber in Wien und in Prag kann die Tür nur „sich“ schließen, wenn sie selbsttätig zugeht. (In Wien und Prag sagt man ja nicht einmal: „Die Kinder spielen“, sondern vielmehr: „Die Kinder spielen sich“, denn sie tun es ja für sich, medial, im eigenen Interesse, zur eigenen Freude, mit sich selbst und miteinander, ohne Sorge um das ganze erwachsene Rundherum). 

Alles Liebe und danke!
OC.
Johann Nikolaus Schneider sagt
14.06.2021 00:26
Vielen Dank, mir gefällt das Gedicht sehr. Wie der kurze Moment des Türenschließens und Abfahrens festgehalten und vertieft wird, das beindruckt mich. Sehr schön finde ich auch den durchgehenden Reim des dritten Verses.
ondřej cikán sagt
14.06.2021 05:14
JA! Der Reim im jeweils dritten Vers jeder Strophe ist wirklich schön, ein außergewöhnlicher und subtiler Effekt ist das. Das hätte ich gesondert erwähnen sollen. Johanniko, Sie erweisen sich wieder einmal als super Lehrerin oder Lehrer, danke für den Hinweis!
Um solche Effekte sichtbarer zu machen, ist es immer hilfreich, möglichst nicht abzulenken: d.h. z.B. die ungewohnte Formulierung "einander gebannt" lenkt ab, man bleibt hängen, man denkt darüber nach, warum die Formulierung so eigenartig sei, man befasst sich mit Nebensächlichkeiten, und der große, schöne Plan des Gedichts ist plötzlich verborgen ...