beitrag von: samya
nicht von gestern aber von vorgestern.
grossgelogen in der kürbiswelt
in den kommoden
all die schicklichkeiten vergessen
der nadeldrucker zerrt den dreihaar weg
hosensäufzer inkludiert
ergötzlich frisch
kein zauberhauch
samya hamieda lind.
review von: ondřej cikán
Sehr geehrte Frau Lind,
danke für Ihren Beitrag. Was soll ich sagen, Ihre Verse sind kräftig und eindrucksvoll, Sie wissen gut, wie man poetische Bilder miteinander kontrastiert! Mit dem Rhythmus wissen Sie auch bestens umzugehen: Ihre freien Metren sind jambisch, was Ihren Worten Nachdruck verleiht, und nur im zweiten und dritten Vers streuen Sie Daktylen ein und sorgen auf diese Weise für eine musikalische Spannung.
Und nun zum Inhalt: Ich gehe davon aus, dass Sie bei Ihrer Erfahrung jedes Wort mit Bedacht wählen und wissen, welche Assoziationen Sie erwecken wollen. Da in dieser Übung Geheimnachrichten an Artmann das Thema sind, ist es klar, dass ich Ihr Gedicht im Bezug auf Artmann lesen muss. Es wirkt so, als möchten Sie ihn kritisieren: Er sei von „vorgestern“ (ok, könnte ja positiv gemeint sein). Irgendwas ist „grossgelogen in der kürbiswelt“ (= Österreich?). Hat Artmann sich großgelogen? Sollen die Großlogen der Freimaurer mitgehört werden? Die Wörter „nadeldrucker“ und „dreihaar“ sind interessant. Der Nadeldrucker ist freilich einerseits ein Computerdrucker mit Nadel-Druckkopf, zugleich „zerrt“ er bei Ihnen jemanden weg, Sie evozieren also das Bild eines Menschen, vielleicht eines Gschichtldruckers(?). Dreihaar ist ein Raufbold oder Lausbub: Dieser Vers ist „spannend“, wie man sagt. Was aber soll bitte nun der „hosensäufzer“ sein? Es ist kein Rock- oder Schürzenseufzer, Hosen werden immer noch mit Männern in Verbindung gebracht. Soll der „hosensäufzer“ also ein patriarchales Bonjour-Tröpfchen evozieren, eine rückwärtsgewandte, versoffene, gliedgesteuerte Nostalgie – oder die Morgenerektion eines Säufers? Letzteres vielleicht am ehesten – der fragliche „säufzer“ sei ja „ergötzlich frisch“ – aber zugleich: „kein zauberhauch“.
Vielleicht missverstehe ich Sie ja völlig, aber Ihre Geheimnachricht an Artmann scheint für mich Folgendes zu chiffrieren: Artmann sei „von vorgestern“, er habe sich in der österreichischen „kürbiswelt“ „grossgelogen“. Sein Werk sei von einem seufzenden, versoffenen Patriarchat geprägt („hosensäufzer“), „ergötzlich frisch“ (ironie?), es habe aber keinen „zauberhauch“ (pointe!).
In anderem Zusammenhang würde ich Ihr Gedicht natürlich nicht mit Artmann, sondern z.B. mit dem Allgemeinzustand der österreichischen Dichtung in Verbindung bringen … Und dann fände ich Ihr Gedicht wohl super.
Im Rahmen dieser „Übung“ hier muss ich aber betonen, dass ich Artmanns Werk nicht für vorgestrig halte, sondern im Gegenteil (zumindest großteils) für besonders aktuell oder auch zeitlos. Z.B. Artmanns „Husaren“ strotzen geradezu vor Respekt – und Lust. Lustloser Respekt wäre respektlos – respektlose Lust wäre grauslich. In Kombination sind Lust und Respekt schön und zutiefst menschlich. Heute scheint oft das eine ohne das andere auskommen zu müssen. Artmanns Liebe zu allen Sprachen ist heute angesichts des aufgeflammten Migrationsthemas und der damit verbundenen Mehrsprachigkeitsdebatte „aktuell“. Und Artmanns Spiel mit diversen Sprachregistern des Deutschen müsste in unserer sprachsensitiven Zeit von besonderem Interesse sein.
Ihr Gedicht könnte in diesem Zusammenhang vielleicht auch deshalb unsympathisch wirken, weil sie jemandem (Artmann?) vorzuwerfen scheinen, von vorgestern zu sein, was aufgrund der Perspektive inkludiert, dass Sie sich selbst für besonders zeitgemäß (und somit für überlegen) halten.
Jedenfalls vielen Dank für Ihr anregendes Gedicht, das mich sehr beschäftigt hat!
Ich würde mich über eine Antwort von Ihnen im Kommentarteil freuen,
und entschuldigen Sie bitte, falls ich mit meiner Interpretation danebenlag,
Ihr OC.
Sollte es um Artmann gehen, wäre ich auf der Seite von OC. Ich finde seine Gedichte überhaupt nicht angestaubt. Wenn er sich in fremde Töne hineinspricht, kommen sie mir ganz gegenwärtig vor.