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kritik der tiere

beitrag von: SofieMorin

Der Schwarm ist ein Tier

Der Schwarm ist ein Tier, das deine Achtung rundheraus verdient. 
Seine Formen gleichen allem, was deine Zellen bewegt. Gleichen Galaxien und Mikrokosmen und zwischendurch sich selbst. 
Du verstehst ihn nicht zur Gänze und magst das an dir. 

Was weiß man? Was weißt du? Die Herde ist kein Zufall. Niemand Bestimmtes trägt die Schuld. Oder die Schuld verteilt sich auf viele Körper. Oder die Schuld besieht sich selbst und kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus. 

Magnetismus hilft dir, und mitunter helfen dingliche Vergleiche, wie die Anordnung von Metallspänen und die Physik der Teilchen, all das zu verstehen – aber eigentlich doch nichts wirklich.

Der Schwarm ist ein Tier, das sich selbst weiß, so körpernah wie weit darüber hinaus. 
Vereinzelte Bekenntnisse verlieren in ihm an Gewicht. Der Vorsatz bleischwer, die Regung im Einzelnen leichthin. Die Formation ist der Aufwind der Ausdauer, und das findest du gut. 

Der Schwarm ist ein Tier, das deine Achtung rundheraus verdient -
und leichthin verspielt.
Zuweilen besiehst du die Gefügigkeit belächelst die Mitziehenden, ihre fragwürdige Loyalität. Deine Achtung verblüht radialsymmetrisch. 
Dabei gilt nichts so innig wie die Mathematik des Zusammenhalts. Die Gebote für Eleganz und Geschmeidigkeit sind überschaubar: Vermeide Zusammenstöße, heißt es. 
Du wünschst dir, dass dieses Prinzip nicht so gerne vergessen würde. 

Der Schwarm ist ein Tier, das ans Vergehen der Zeit glaubt. 
Das Gedächtnis fußläufig mag es festhalten, doch Bewegung ist Leben, das läuft immer voraus. 

Der Schwarm ist ein Tier, das sich aus Hoffnung speist.
Üppige Körperwärme und bescheidene Distanzregeln, betrügen nicht das Vorausdenken, und kennen keine Enttäuschung. 
Längsseits des Randsaums scheue Erinnerung ertastbar, an etwas nie Dagewesenes. Und all deine Zellen tun es ihm gleich.

Der Schwarm ist ein Tier, das versteht: etwas davon, Vieles zu sein.
Der Schwarm ist ein Tier, das versteht: etwas davon, eins zu sein. 

review von: martin fritz

aha, der weg von den tauben über die einzelne taube hat jetzt bis zur schwarmüberlegung geführt - toll wie produktiv hier die verschiedenen texte füreinander sind. ich mag an dem text sehr, dass er so abstrakt gehalten ist, nicht auf die art der tiere bezogen oder beschränkt, aus denen der schwarm besteht, und wie präzise und nachvollziehbar die beobachtungen über den schwarm sind, und über unsere fähigkeit/nicht-fähigkeit, den schwarm zu begreifen und zu verstehen. auch die sprache des textes trifft für mich fast immer genau den angemessenen ton, mir sind jetzt nur zwei stellen aufgefallen, über die ich noch nachdenke: "ein Tier, das deine Achtung rundheraus verdient" - das klingt zunächst einleuchtend und zutreffend, aber wenn ich drüber nachdenke, impliziert das doch, es gäbe tiere, die keine ahnung verdienten. ist über achtung etwas, das verdient werden muss, und nicht allem leben einfach unbedingt zusteht? andererseits ist es natürlich auch schon sehr schön, wie bei der wiederholung dann das "verdient" vom "verspielt" wiederaufgenommen wird, und schon da wäre es schade drum. aber vielleicht kann die stelle doch auch irgendwie anders gerettet werden, oder lese ich sie nur falsch? und als zweites hat mich das einmalige auftauchen der "Herde" erstaunt, das für mich gleich die (riesige, nicht schnell abschließbare) frage aufmacht nach dem verhältnis von schwarm und herde. sind sie synonyme, oder falls nicht, wodurch unterschieden? natürlich kann der text das hier auch alles aufwerfen und fragen, aber ich frage mich, ob er das hier gerade will? und zuletzt: ich finde ja nicht, dass literarische texte sich auf punkt und komma an die regeln der orthographie halten müssen, und gerade beistriche können sie, wie ich finde, durchaus auch nach eigenen gesetzen setzen, zur strukturierung ihrer geschwindigkeit und pausen. und/aber zwei hätte ich hier anders gesetzt: "Gefügigkeit, belächelst" sowie "Distanzregeln betrügen".

wäre der schwarm-text ein ein oktopuss, wäre er eine st.-helena-krake.
Sofie Steinfest sagt
02.05.2022 10:24
Ganz lieben Dank fürs so genaue Lesen, wieder!
Ja, stimmt, das mit der Achtung. und inwiefern sie verdient werden kann ist diskutabel. "Der Schwarm ist ein Tier, das deine Achtung verdient" war halt als Initialzündung für den Text da. (An diesen ersten SÄtzen kann ich mich leider auch nur abarbeiten und höchstens was hinzufügen, ändern geht aber nicht, ohne dass es ein anderer Text wird, als der, der sich will - so irgendwie) Ich war aber auch gleich nicht einverstanden damit - aus denselben Gründen - wollte dieses strittige Verdienenmüssen der Achtung relativieren, zur Diskussion stellen. Mit dem "Rundheraus (de Verweis auf die wabernden Außengrenzen des Schwarms, und zugleich einem Wort, das ja eigentlich zum Verdienen gar nicht passt, sondern vielmehr zu einem Geständnis, oder so ) ist das freilich nur sehr andeutungsweise passiert. Das Verspielte sollt es dann noch mehr entschärfen, aber naja, es bleibt gesagt, dass sich (mutmaßlich aus unserer anthropozentrischen Sicht) etwas verdient werden muss.
Das mit der Herde, völlig zurecht der Einwand, die hab ich jetzt rausgenommen, weil, ganz genau, an der Stelle will ich das ja gar nicht diskutieren. Danke fürs Bermerken, auch hier!
Na und meine Beistrichsetzung...ich halte mich darin für unterirdisch schlecht und bin immer froh, wenn ich in Lyrik gar nichts damit muss, aber hier ist die schlichtweg falsch.
Jetzt sinds also Krakentexte & wir alle unversehens in die Oberstufe aufgestiegen. Lässig!
martin fritz sagt
02.05.2022 18:48
verstehe - ich denke, der text kann ja auch das "verdienen" beinhalten wollen, und dann knüpfen sich eben diese ganze überlegungen daran. das finde ich gar nicht schlecht, es ist mir nur eben aufgefallen. und ich denke schon, dass die relativierungen und gegengewichte im text funktionieren und stark genug sind für das, was der text will - sonst wäre es ja eben tatsächlich ein anderer text.