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kritik der tiere

beitrag von: leovanderzander

Das Rotkehlchen auf dem Balkon

Wenn ich morgens nicht aufstehe, also wenn ich wach werde, aber liegen bleibe – oder noch
genauer: wenn ich einmal kurz aufstehe (zum Beispiel um auf Toilette gehe oder einen Tee zu
machen) die Jalousie hochziehe und dann wieder liege, dann habe ich von meinem Bett aus einen
guten Blick auf das Vogelfutterhäuschen, das wir auf dem Balkon aufgehängt haben.
Es kommen manchmal Maisen, selten Spatzen, aber häufig, eigentlich immer kommt ein
Rotkehlchen.
Das Rotkehlchen erscheint ja erstmal winzig, niedlich und scheu, wenn man ihm aber nur ein wenig
zuschaut lernt man sehr schnell, dass es das fieseste, mutigste und arroganteste Vögelchen ist, dass es
so gibt. Nur die Identität als Vögelchen verschleiert den Uneingeweihten diese elementare
Wesensart.
„Was ist los?“ fragt das Rotkehlchen auf meinem Balkon „Musst du deine psychotischen
menschlichen Wesenszüge mal wieder auf unschuldige und am Weltuntergang ganz und gar
unbeteiligten Seinsformen projizieren?“
„Moment“, sage ich „was soll da heißen ‚unschuldig‘? Das ist ja schon ein Konzept, das in der
gnadenlosen Natur gar nicht vorkommt, ‚Schuld‘ und ‚Unschuld’. Das solltest du gar nicht verstehen
können und mir also diese Projektion auch nicht vorwerfen können. Und vom Weltuntergang habe
ich gar nichts gesagt, damit hast DU jetzt angefangen.“
Das Rotkehlchen starrt mich an. Natürlich, es kann mich gar nicht hören durch die doppelverglaste
Scheibe. „Jedenfalls“, führt es fort, „jedenfalls könntest du zum Beispiel auch mal Mehlwürmer in
das Essen hier reintun. Du weißt schon, dass wir auch Eiweiss brauchen? Nur weil es vermutlich
besser wäre wenn ihr kein Fleisch ist, heißt das nichts für uns! Wir bewegen uns ja in ganz anderen
Logiken!“
„Ja“, sage ich, mehr zu mir selbst, „Würmer kaufen ist nur eklig – wie heuchlerisch auch, weil
Hühnchen kauf ich ja auch manchmal.“
„Also“, so das Rotkehlchen wieder, „bitte mal tote Insekten kaufen für uns Vögelchen! Das ist ja wohl
das mindeste! Wenn ihr schon mit eurer Art zu leben alle anderen abmurkst! Wenigstens
miternähren könntet ihr uns!“
„Naja“, erwidere ich nun doch wieder laut, „das ist jetzt aber ein sehr billiger Trick. Als ob ich allein
schuld wäre am Artensterben. Und komm mir nicht mit ‚uns Vögelchen‘. Als ob du irgendein
anderes Vögelchen an das Futterhäuschen ranlassen würdest.“ Während ich das sage gehe ich zum
Fenster, diese Entgegnung darf das Rotkehlchen sehr gerne hören!
Als ich das Fenster öffne schreckt das Rotkehlchen auf und fliegt davon.

review von: martin fritz

ein würdiger endgültiger abschluss unserer klasse ist dieser text über den vogel des 1992 jahres 2021 in deutschland, dank dem ich beim hintergrund recherchieren übrigens auf die folgende perle von satz in der wikipedia gestoßen bin: "Wegen seiner oft geringen Fluchtdistanz, seines Erscheinungsbilds und seiner Häufigkeit ist das Rotkehlchen ein besonderer Sympathieträger." - was tiere halt so brauchen, um sympathisch zu sein für viele. zurück zum text: wir finden hier mit besonderer leichtigkeit und angenehm entspannt viele themen wieder, mit denen wir uns in der klasse beschäftigt haben: das dezentrieren und (teilweise) auflösen der anthropozentrischen perspektive, die interspecielle kommunikation im dialog zwischen rotkehlchen und ich-erzählinstanz (das hatten wir bei anderen texten, z.b. bei der kommunikation mit katzen schon, inklusive der erzähllogischen schwierigkeiten, die aus dem verstehen und nicht-verstehen von menschlicher sprache von sprechenden tiere resultieren, die hier noch für die gut gesetzte pointe mit der doppelglasscheibe als kommunikationshindernis clever genützt werden); die fragen von schuld und verantwortung, die hier ohne pathos und unnötige schwere elegant und leichtfüssig verhandelt werden - eine schöne komplementäre ergänzung z.b. zum text "eichmann oder keine hundefarce nach hannah a.", wo wir das ja ebenfalls diskutiert haben. aus der beliebten abteilung beistriche, die ich gesetzt hätte: "häufig, eigentlich immer, kommt" sowie "ein wenig zuschaut, lernt man" sowie tippfehler: "Meisen". ansonsten kann ich beim besten willen keine zu bekrittelnden details mehr finden und schließe ich mich einfach dem rotkehlchen unumwunden an: bitte rotkehlchen miternähren.

wäre "Das Rotkehlchen auf dem Balkon" ein oktopuss, wäre es eine atlantische streifenkrake.