sie sind hier: startseite / alle beiträge / sie wusste dass ich sie sehe

sie hat gesagt, dass er gesagt hat, dass sie gesagt hätte ...

beitrag von: SilkeScheffel

sie wusste dass ich sie sehe

"war es das erste Mal?"
	"Nein."
und die Unmittelbarkeit
der kalten Moose
"da war eine Hirschkuh, ich bin mir sicher.
	sie ging am Waldrand entlang und schob mit ihrer Nase den Schnee auseinander."
wie ein großes hungriges Tier geht der Winter 
durch den Wald, geht er immer tiefer
"stört es Sie mir mehr davon zu erzählen?"
	"Nein, das stört mich nicht.
	Sie war scheu. ich konnte sie nicht lange beobachten.
	Als sie aufblickte, kam Dampf aus ihrer Nase, sie atmete ruhig.
 Sie wusste dass ich sie sehe."
und die Stämme
als hätte jemand dunkle Linien senkrecht aus dem Boden gezogen
die Bäume schlafen nie
nicht einmal im Winter
"warum waren Sie nachts alleine im Wald? Es war leichtsinnig, haben sie das nicht gewusst?"
	"Nein. Das habe ich nicht gewusst."
und die Stille
der frische Schnee schluckt jedes Geräusch
und die Fingerspitzen
bei Kälte verengen sich die kleinen Gefäße
die Durchblutung wird gedrosselt
im Gewebe bilden sich nach und nach Eiskristalle
"ich werden Ihnen jetzt etwas zeigen,
bitte sagen Sie mir was Sie sehen."

review von: ferdinand schmalz

Atmosphärisch dichter Text der uns tief in den Wald führt, einem immer schon mythischen Ort. Das ganze passiert aber in einer seltsamen Art von Nacherzählung, von der wir (noch) nicht wissen, was das denn für eine Befragung ist die da stattfindet. Es gibt ein paar düstere Referenzen, die Uhrzeit, zu der man nicht mehr im Wald sein soll, und die (er-)frierenden Fingerspitzen. Das alles macht eine vages Gefühl des Unwohlseins, und obwohl man nicht genau weiß, worum es eigentlich geht zieht es einen in den Text hinein. In der Drehbuchliteratur wird dabei oft von Mystery Tention gesprochen, also einer Spannung die sich aus dem Unbekannten, unheimlichen ergibt. Ich finde sprachlich könnte es noch etwas konkreter, und damit poetischer, werden. Was sind das für Moose, was sind das für Bäume, was ist das für ein Schnee? Alles was uns als Leser noch näher an die konkrete Erfahrung eines Winterwaldes ran bringt ist hier gut. Bin beim Lesen über das Wort "Nase" gestolpert, weil ich mir gedacht hab, da müsste es ein eigenes Wort geben, wie Nüstern, aber anscheinend sagt man im Jägerlatein, "Windfang". Vielleicht auch ein spannendes Wort in diesem Zusammenhang hier.
Silke Scheffel sagt
01.03.2023 18:40
herzlichen Dank für das Review! und das feine neue Wort, so aufgestöbert aus dem Jägerlatein, also " Dampf aus dem Windfang" :). den Wald poetischer und konkreter ausschreiben, das finde ich gut und werde es versuchen