Ich betrachte mich zufrieden im Spiegel, schlüpf in die Pumps und schau mich unschlüssig um. Ich bin viel zu früh, also setz ich mich an den Küchentisch und beginne in der Zeitung zu lesen. Dabei sollte ich es wissen. Beginne ich erst einmal zu lesen, fall ich in den Text und tauch erst wieder auf, wenn er zu Ende ist oder mich jemand stört. Heute stört niemand. Und der Artikel ist lang. Und darum werde ich jetzt zu spät kommen. Ich hasse das.
Ich habe ein Faible für Pünktlichkeit. Faible ist gut, es liegt in meinen Genen, ich kann gar nicht anders. Ich weiß das, weil meine Zwillingsschwester genauso ist. Es drängt mich also zur Pünktlichkeit. Warum muss auch die blöde Zeitung da liegen?
Ich könnte mich ohrfeigen, schimpf ich vor mich hin, während ich die Handtasche schnappe. Wo ist jetzt der Autoschlüssel? Was hab ich zuletzt angehabt, welche Tasche dabei gehabt? Ich dreh alles um, einmal, zweimal, dreimal. Ich geh von der Küche ins Bad, was wirklich absoluter Blödsinn ist, was sollte der Schlüssel im Bad… Das Absurde ist, dass mir das alles bewusst ist und ich nichts dagegen machen kann. Da fällt mein Blick auf die Zeitung, die einen seltsamen Buckel macht. Ich werfe die Zeitung auf die Kredenz, krall mir den Autoschlüssel und werf die Tür hinter mir zu. Na super, ich werd verschwitzt und auf Tausend ankommen. Viel zu spät. Ich hasse das.
review von: Angela Lehner
Der neue Versuch ist zugleich besser und schlechter. Besser ist er im Bestreben, nah an der Figur zu bleiben. Wir lernen sie auf kurzer Strecke erstaunlich gut kennen – du stattest sie sogar mit einer Zwillingsschwester aus. Die Erzählung verweilt bei den Gefühlen der Figur.
Etwas weniger gelungen ist in dieser Version die Wut. Obwohl die Figur frustriert ist, spüren wir das beim Lesen nicht richtig. Und auch die Wut, kommt nicht wirklich zum Vorschein. Das liegt daran, dass du dich dazu hinreißen lässt, den Erklärbär zu machen. Sätze wie “Ich hasse das” oder andere Reflexionen sind immer wieder eingestreut und stoppen die Ereignisse und den Lesefluss. In einer längeren Erzählung können Reflexionen genutzt werden, um Distanz einzunehmen und an einem anderen Punkt weiterzuerzählen.
Du könntest damit starten, die Ereignisse des Morgens zu schildern. Dann kommt ein Satz wie
”`Das Absurde ist, dass mir das alles bewusst ist und ich nichts dagegen machen kann.`" - und dann erzählt die Figur den Leser*innen direkt, wer sie ist und worum es ihr geht.
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