terror, assault, anthrax / vorlesung
ilija trojanow
auf den türen der wiener u-bahn sind zwei aufkleber zu sehen, ein grüner,
der eine überwachungskamera abbildet, und ein blauer, der einen kinderwagen
zeigt. die aussage ist klar und einfach: wir weisen Sie darauf hin, dass Sie
von der wiege bis zur bahre unter beobachtung stehen. richtet eine derartige
generalkontrolle schaden an oder nicht? manche verneinen jegliche gefahr für
die rechte des bürgers, weil die daten zwar angehäuft, selten aber
durchforstet oder gar bearbeitet werden. andere behaupten, es könne
heutzutage und in zukunft angesichts der technischen entwicklung ohnehin
keine privatsphäre mehr geben und dritte wiederum bezweifeln grundsätzlich,
dass überwachung per se eine repressive maßnahme sei (“solange ich nicht im
morgengrauen in handschellen abgeführt werde …”).
wer sich derart weltfremd selbst beruhigt, wird über eine umfrage, die
der us-amerikanische pen bei seinen mitgliedern durchgeführt hat,
besonders staunen. unter der passenden überschrift “chilling effects”
(http://www.pen.org/chilling-effects) wird festgestellt, dass 16 prozent der
befragten bestimmte themen inzwischen bewusst vermeiden, nicht nur im
persönlichen gespräch und in e-mails, sondern auch in ihren texten. mit anderen
worten: fast ein sechstel aller autoren in den usa übt schon eine art der selbstzensur
aus, und ein weiteres sechstel hat diese schon einmal ernsthaft in erwägung gezogen.
es ist anzunehmen, dass die zahlen in deutschland ähnlich aussehen würden.
bedenkt man, dass wir erst in diesem jahr schlüssige und unwiderlegbare
beweise für die globale überwachungsmaschinerie erhalten haben, ist es mehr
als bemerkenswert, wie effektvoll sich diese neue realität in den köpfen der
intellektuellen bereits eingenistet hat. allein die tatsache, dass jene
autorinnen und autoren, die in den letzten monaten publizistisch gegen die
grassierende allgegenwärtige überwachung protestiert haben, gelegentlich zu
hören bekommen, wie “mutig” sie seien (durchaus als kompliment gemeint),
zeigt, wie sicher sich viele schon sind, dass kritische meinungsäußerung
unangenehme konsequenzen nach sich ziehen kann. in einer wirklich freien
gesellschaft müsste die rettung eines in not geratenen schwimmers aus den
fluten der ostsee als mutig gelten, nicht aber ein text, ein interview oder
eine petition.
repression muss keineswegs stets brutal und aggressiv daherkommen. im
gegenteil: die effizienteste repression ist jene, die dem einzelnen das
duckmäusertum so schmackhaft macht, dass er sich vermeintlich aus freien
stücken selbst auf untertänische diät setzt. bei langlebigen diktaturen,
etwa den regimes des ehemaligen ostblocks, nahm die überwachung in dem maße
zu, in dem gewalttätige repression abnahm. dem geheimdienstlichen apparat
gelang es aufs erfolgreichste, der bevölkerung einsicht in die notwendigkeit
des gehorsams zu vermitteln. dass dieser form von repression durch
massenüberwachung vorschub geleistet wird, werden nur jene abstreiten, denen
an der effizienz von macht und herrschaft mehr gelegen ist als an
individueller freiheit.