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café gerstl

beitrag von: michael.beisteiner

geflatter

kommt eine zeile geflogen
flattert wort 
für wort 
durch
den staubigen saal

sie erzählt mir
von zwei drei tropfen blut
in meinem espresso
erzählt mir von
schwarzen winden
einsamkeit
von lichtkegeln und
einer jagd auf 
die leichtigkeit

    

review von: judith nika pfeifer

was für ein traurig-melancholisch-bedrückendes szenario, das mich ein bisschen ratlos zurücklässt. auch wenn der titel "geflatter" ankündigt, bleiben bei mir viele fragen offen.. warum ist der saal staubig, um was für eine art saal handelt es sich? und warum ein saal? was hat es mit den zwei drei tropfen blut auf sich? und was weiß die zeile, was sie nicht preisgeben mag? 
anregung: vlt der zeile, die dahergeflogen kommt, mehr raum geben, sie weiter erzählen lassen. und etwas konkreter werden. gern auch mit den leser*innen spielen, sie wollen dem mysterium ja auf den grund gehen, um dann erlöst zu werden. oder sie auch im dunkeln belassen. gerade wenn mit lichtkegeln jagd auf die leichtigkeit gemacht wird, was für ein bild! 

ps. bei den "schwarzen winden" hatte ich übrigens zuerst an segelbootwinden gedacht. generell als tipp aus meiner schreibpraxis: ich bin bei adjektiven immer extrem vorsichtig. versuche sie zu vermeiden oder das, was sie ausdrücken sollen, zu umschreiben. ich würde hier versuchen, den „staubigen saal“ („show don‘t tell“) anderswie darzustellen. auch wäre es einen versuch wert, die „schwarzen winde“ detaillierter und sinnlicher zu beschreiben, wie fühlen sie sich an, was machen sie und wozu? ich denke, das würde das gedicht unglaublich bereichern. herzlich, nika
michael beisteiner sagt
05.05.2018 14:46
liebe nika,
ich kann deine anregungen sehr gut nachvollziehen. ich gerate beim gedichteschreiben (bei prosa ists was anderes) immer wieder in diesen konflikt: ich sollte, vielleicht, dem leser mehr preisgeben, will es aber nicht. bewusst berühre ich die aufgeschriebenen bilder nur ganz sachte an ihrer oberfläche, ihre tiefe halten sie für den leser bereit. oder aber es handelt sich um eine täuschung, tiefe scheint da, ist es aber tatsächlich nicht. hier stehen sich, finde ich, zwei uralte rivalinnen gegenüber: aufklärung und mysterium. (wobei ja immer die frage bleibt, ob sie wirklich trennbar sind, ob sie tatsächlich in rivalität zueinanderstehen, oder, ob wir das nur annehmen?) oft leuchtet mir das geheimnisvolle klarer ein, als das ausformulierte.

staubiger saal kommt daher, dass ich das ganze projekt unter dem thema des kaffeehauses sehe. ein typisches wiener kaffeehaus findet oft in einem saal statt, und er ist oft staubig und sonnendurchflutet. das war mein bild, und hier könnte ich jedenfalls präziser sein.

ich folge beim dichten gerne impulsen, die ungeprüft übernommen werden können, das ist eine eigene lust. das muss selbstverständlich nicht für jedes gedicht gelten, bei diesem hier aber war es beabsichtigt.

die schwarzen winden auf einem segelgeisterschiff zu verorten, halte ich in diesem zusammenhang für eine tolle assoziation. die einsamkeit als schiff, es wird gekurbelt an schwarzen winden, entkommen?, man zwickt sich ein dabei, zwei, drei tropfen blut in der hitzigen dunkelheit, die flinken lichtkegel von taschenlampen, auf der jagd nach auswegen, nach anderen schiffen, rundherum nichts als nacht und schwarzes wasser …

das gedicht streift eine emotion in rohfassung, eine emotion, der ich nicht voll begegnen möchte, weil ich erahne, aufgrund von erfahrung vielleicht, dass sie mich in meinem, zuweilen zarten, selbstwert erschlägt. da öffnet sich auch das spannungsfeld, von dem das gedicht erzählt: kann, darf, soll, muss ich einer emotion ausweichen? und ist nicht gerade dieser versuch des abwendens verantwortlich für meine bedrückung? jage und verjage ich die leichtigkeit letztlich selbst, indem ich voller angst den emotionen davonrenne? (ich gilt hier wahrscheinlich nicht nur für mich.)

diese zeilen umreißen nur einen augenblick an gedanken, und welcher augenblick ist schon ausgereift? vielleicht sollte ich sie aber auch ahnungen nennen …

lieben gruß, michael
michael beisteiner sagt
15.05.2018 10:13
ich bin noch auf eine aussage gestoßen, die mein anliegen etwas verdeutlicht:

"Vielleicht weiß ein poetischer Satz das, was ich nicht weiß.“ (Peter Waterhouse)

nachdem die klasse ja heute geschlossen wird, wünsche ich alles liebe! es hat mir spaß gemacht! mb
judith nika pfeifer sagt
30.05.2018 10:12
ja das kenne ich auch nur zu gut! vielen dank für dein gedicht, michael, und deine ausführlichen worte auf meine offenen fragen und das grandiose waterhouse zitat. ja: was preisgeben - und was nicht? was ist zu viel? und was braucht es, um verstanden zu werden?

"kann, darf, soll, muss ich einer emotion ausweichen?" gute frage!! ich meine: klar! auf jeden fall darf, kann und soll man ausweichen, je nachdem was eine/r/m grad gut tut. oder es für später aufheben. ich versuch mich im spielen, wenns mir gelingt, mir die emotion von außen anzusehen, so, als ob es mich nicht beträfe und dann wieder mit mir mittendrin, wie es sich von innen anfühlt. und dann wieder das gefühl ohne ein „ich“. dadurch entsteht so eine art kipp-bild zum mitkippen & ausprobieren wie sich was anfühlt. was auch spaß macht, ist – da wir grad beim kippen sind – wenn ich mir das genau gegenteilige gefühl herhole und zwischen den beiden entgegengesetzten gefühlen herumkippe. das bringt bewegung & relativiert alles auf wunderbare weise, bringt neue ebenen rein. oder man geht voll in das gefühl rein, auch wenn sichs nicht so gut anfühlt & schaut wie weit man gehen kann, in aller übertreibung. selbstironie hilft mir da auch immer. sonst nehm ich alle gefühle einfach als meldesystem, was will da jetzt beachtet werden, beim schreiben oder je nachdem im leben.

aber klar: das hängt alles mit allem und großen (kleinen) dingen zusammen & manchmal ists auch wirklich am allerbesten, kryptisch zu bleiben. das gute: wir können ohnehin niemals je alles verstehen. ist doch super!! und sehr erleichternd :)

herzlichen dank dir fürs mitmachen!! große freude, dich dabei gehabt zu haben!