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café gerstl

beitrag von: Voila01

Im Stammcafé

allen ist alles bekannt
Kleine Vorbemerkung: Ich mag Gedichte, die sich reimen, und habe mich hier, was die Form betrifft, von Teodors Gedicht "Absehbar" inspirieren lassen.

Allen ist alles bekannt.
„Herr Hofrat, gnä Frau, küss die Hand!“
Blick in die Vitrine
mit freudiger Miene,
der Kellner steht wie ein Hydrant.
Allen ist alles bekannt.

Allen ist alles bekannt.
Die Torte mit Schoko-Krokant,
das schlechte Gewissen,
der Samt, leicht verschlissen,
das Loch, das ich dort eingebrannt.
Allen ist alles bekannt.

Allen ist alles bekannt.
Man schaut nur bis zum Tellerrand.
Gemächliche Ruhe,
kein Hipstergetue.
Sagt’s ja net, i bin ignorant!
Allen ist alles bekannt.

Allen ist alles bekannt.
Der Wirt war doch so tolerant!
Jetzt will er zum Tschicken
ins Freie mich schicken.
Das ärgert mich exorbitant.
Dass ich rauch, ist doch allen bekannt.
    

review von: augusta laar

ein herrliches wiener kaffeehausgedicht, so eines habe ich mir schon lange gewünscht. in der ersten strophe wird das kaffeehaus an sich eingeführt, ganz wunderbar mit der wiener etikette, dem herrn kellner und der kuchenvitrine, genau das erwarten wir, genau das mögen wir. in der zweiten strophe fällt der glanz ein wenig ab, die wiener melancholie macht sich bemerkbar, das loch im samt, das etwas verschlissene kommt hervor, das wir zwar beschönigen aber schon tief drinnen erkennen, das kaffeehaus hat seine schuldigkeit getan, es erlebt evtl. das nächste jahrhundert nicht mehr. aber genau dafür lieben wir ja u.a. das kaffeehaus, für seine vergänglichkeit, für seine menschlichkeit für seine liebenswürdigkeit als soziales biotop. doch es hat seine schlag-und schattenseiten, es schaut nur bis zum tellerrand z.b. das biotop ist ein in sich geschlossenes system, ja wie soll denn das weitergehen? ich fange auch schon an zu reimen, so viel spaß kann das machen. die letzte strophe ist grandios unsentimental. die dichterin ärgert sich über das konsequent durchgeführte rauchverbot. leider ist sie sogar als stammgast diesen neuen gepflogenheiten unterworfen, das kaffeehaus landet in der ernüchternden gegenwart. aus und vorbei mit der tschickerei. eine meiner besten freundinnen in wien leidet inzwischen körperlich, sie ist abhängige und leidenschaftliche raucherin und kann sich inzwischen nur noch in obskursten kneipen und hinterhöfen mit ihrer zigarette herumdrücken, wie schade, anstatt im gepflegten und gewohnten ambiente. ihr zu liebe könnte ich sogar wieder anfangen zu rauchen, wenns halt was helfen würde. dem gedicht haben die reime gut getan, es fließt selbstverständlich und rhythmisch, ist vom sinn wie ein kluger essay, aber durch die reime zwischen moritat und phantastischer realismus, also künstlich im besten sinn, denn die vergänglichkeit kann hier so schön flanieren und sich niederlassen, eine wohltat.
Volker Teodorczyk sagt
16.05.2018 17:42
so geht es natürlich auch. ich habe mich nicht getraut, etwas lustiges aus der vorgabe zu machen.
Prima gemacht!
Claudia Karner sagt
16.05.2018 20:52
Vielen Dank für den wunderbaren Kommentar, Frau Laar!
Zum Glück ist dieser Online-Workshop jetzt zu Ende. Ich würde sonst noch tagelang reimen. ;-)
augusta laar sagt
16.05.2018 21:02
das gedicht ist eine freude. überhaupt waren die texte der letzten woche toll, so hat es richtig spaß gemacht. ich wollte ja gerne eine analoge klasse mit dem thema machen, aber durch die online-klasse habe ich vielleicht mehr texte kennenlernen können. danke sehr fürs ernsthafte und inspirierende mitmachen. mir kommt vor, je besser die texte wurden, desto mehr ansporn für die nächsten teilnehmer, und auch vielleicht anziehung, unglaublich. schade dass die klassenpräsentation schon vorbei ist, diese texte haben da gefehlt. herzlich a.l.
Claudia Karner sagt
16.05.2018 21:15
Ich freue mich auch, dass ich spät, aber doch in die online-Klasse gefunden habe. Mehr Interaktion zwischen den einzelnen Teilnehmern hätte ich schön gefunden. Der gegenseitige respektvolle Austausch kann sehr inspirierend sein.
Liebe Grüße aus Salzburg