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geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: samya

meschmunken

die fahrt beginnt. schon zerreisst sich das buch. 
in händen bleibt die karte wohin.
du äugst weit nach vorne. zurück ins kritzikratzi.
grundpire im tschatscheleton verstummen. 
im selbstlob loten sie ihr sein. 
schreien leise in dich das jalajala und gehen ab. 
black. der vorhang fällt.
tadhak bihudu' und chorar em voz alta.

review von: ondřej cikán

Das Gedicht hört sich interessant an und bietet viele Rätsel. Am Anfang „beginnt“ eine „fahrt“, zugleich aber „zerreisst sich das buch“. Die „karte wohin“ ist ein kindliches „kritzikratzi“ („krixikraxi“?). 
Was aber sind die „grundpire“ im „tschatscheleton“? Etwan „krumpire/grundbirnen/erdäpfel“? 
Was hat das „Selbstlob“ dieser Dinge mit ihrem „jalajala“ zu tun? (Warum eigentlich nicht „jallajalla“ oder überhaupt „yallayalla“ angesichts der fast wissenschaftlichen Transkription im letzten Vers?) 
Wieso braucht „das jalajala“ eigentlich den bestimmten Artikel? Ist es ein bestimmtes „Jallajalla“, das sich vom allgemeinen Ausruf irgendwie unterscheiden soll? Näher bestimmt ist es im Gedicht aber nicht. 

Zum Schluss orientiert man sich wieder, wenn man sich Zeit nimmt, im arabischen und im portugiesischen Satz: „chorar em voz alta“ – „mit lauter Stimme weinen“ … Und „tadhak bihudu’“ soll auf Arabisch wohl „leise lachen“ (?) bedeuten. Mein Arabisch ist nicht vorhanden, und wenn ich bei der Arbeit an einer Publikation auf etwas ähnliches stieße, würde ich die Stelle mit berufeneren Kolleginnen und Kollegen besprechen … Aber warum ist das „Weinen“ portugiesisch und das „Lachen“ arabisch? Soll das etwas bedeuten? weint man in Portugal, während man in der felix Arabia leise lacht? Vor Schadenfreude? Vor Lebenslust? 
In einem Gedicht hat alles irgendwas zu bedeuten, selbst wenn es niemand versteht. Anders: Selbst wenn jeder alles anders interpretieren kann und ein Bild unzählige Deutungen zulässt, sollte man beim Schreiben bedenken, welche Deutungen man verstärken, befördern, betonen, zulassen, ausschließen möchte …

Schön ist die Assonanz: „sein. / schreien leise …“.

Alles Liebe, OC.
samya hamieda lind sagt
13.06.2021 18:47
lieber oc,
zu beginn herzlichen dank für das interessante review zu meschmunken.

meschmunken heisst im dialekt aus dem nildelta sowas wie verschoben, verrückt.

´die fahrt beginnt. schon zerreisst sich das buch.´
ich reise viel und dabei lese ich. schon so manches mal hat sich dabei ein paperback ´zerriesen´ durch das teilen in blöcke, aber auch weil ich beim zu heftigen umblättern die eine oder andere seite zerrissen habe. bei mir löst das einiges aus.
haben sie das noch nie erlebt? das wäre schade.

´ in händen bleibt die karte wohin.´
als lesezeichen verwende ich – wie andere auch – die fahrkarte und die halte ich in der hand.

´ du äugst weit nach vorne. zurück ins kritzikratzi.´
unrichtig ist die interpretation ´ die „karte wohin“ ist ein kindliches „kritzikratzi“ („krixikraxi“?).´ die beiden zeilen trennt ein punkt. das kritzikratzi, das sie netter weise korrigieren, ist bei meinem ägyptischen vater immer das ´kritzikratzi´ gewesen, weil er es im österreichischen phonetisch so verstanden hat. deshalb behalte ich es so bei. sie haben das ´falsch´geschriebene verstanden und das werden wohl auch andere tun.

´grundpire im tschatscheleton verstummen.´
in der tat sind es die ´krumpire, die kartoffel.´ meine letztes jahr verstorbene vorarlberger ´schwiegermutter´ hat den begriff ´krumbire´ verwendt und mir stehts erklärt, dass es nicht grundbirne bedeutet. ich habe immer zu ihrem grossen gelächter immer ´grundbire´ gesagt und deshalb steht sie hier. auch das haben sie verstanden und das werden auch dieses mal andere tun..

´im selbstlob loten sie ihr sein.´
dass menschen gerne sich selbst loben und damit irgendwie in der gesellschaft ihre position einrichten, das ist allseits bekannt. ab und an mache ich das auch.

´schreien leise in dich das jalajala und gehen ab.´
das jalajala hat nichts mit ´jallajalla´oder ´yallayalla´ ´gemma gemma´ zu tun. es ist der dialektausdruck für das zungenspiel der trauerweiber aus dem nildelta. wie viele menschen loben sich in ihrer trauer? ich möchte es nicht zählen müssen. der abgang dieser trauernden ist oftmals theatral und lächerlich.

´das portugiesiche ´chorar em voz´mit lauter stimme weinen´… und das arabische ´tadhak bihudu’ ´leise lachen´
beides darf wohl so stehen und inhaltlich zum nachdenken anregen. dass es in zwei unterschiedlichen sprachen und nicht im erwarteten deutsch dasteht, ist wohl eine einladung zum nachdenlen über den inhalt.

ich habe durch meinen vater ägyptische wurzeln, deshalb verwende ich den mir geläufigen nildelta dialekt. portugiesisch gefällt mir sehr.

ich verstehe nicht, warum sie in ihrer sprachverwendung auf schadenfreude kommen.

das weinen ist in allen sprachen mit trauer konnotiert und das lachen gerne mit fröhlichkeit. ich ordne das keinem volk zu. ich würde das sogar als rassistisch erleben.

ja. es stimmt in einem gedicht hat alles etwas zu bedeuten. bestimmt nicht lediglich irgendwas. dem lesenden menschen darf aber auch die eigeninterpretation zugemutet werden. das verstehen selbst hat immer mit dem eigenen leben, der eigenen erfahrung der leserin/des lesers zu tun.

auch auf die gefahr hin rauszufliegen, erlaube ich mir zum abschluss meiner reaktion auf ihr review folgendes:
ihr ´anders´ zu mir hin erlebe ich als doppeldeutig.

sie unterstellen mir damit, dass ich nicht über die wirkung meiner texte nachdenke respektive einfach so unbedacht vor mich hinschreibe.
nach ihrer früheren unterstellung unsympathisch zu wirken, finde ich das schlichtweg unzulässig und nicht wirklich kritisch. dass ihnen mein schreiben nicht gefällt, verbergen sie nicht. das ist ihre sache. es ist sympathisch und okay. ihre form der kritik an meinem schreiben und des formulieren des nicht verstehens desselben, erlebe ich als unbehaglich, nicht wertschätzend und unprofessionell.

ich grüsse freundlich aus dem sommerlichen basel.
samya
ondřej cikán sagt
14.06.2021 05:00
Liebe Samya,

ich unterstelle Ihnen gar nichts, und schon gar nicht, unreflektiert zu schreiben. Ich hoffe, dass Ihnen aufgefallen ist, welche Passagen ich an Ihren Texten jeweils gelobt habe. Sie gehen sehr geschickt mit Bildern und Formulierungen und Klängen um. Da und dort sollten Sie sich m.E. halt überlegen, ob es nicht eine geschicktere Lösung gibt. Sie werden auch ganz sicher nicht "rausfliegen", wieso auch und wie? Das "anders" sollte heißen: "anders ausgedrückt", sonst nichts, und es war keineswegs doppeldeutig gemeint.

Ich habe natürlich auch nie sagen wollen, dass Sie unsympathisch seien, sondern nur, dass die eine oder andere Formulierung in dem betreffenden Gedicht unsympathisch wirken könnte (und das trifft nebenbei gesagt nicht auf dieses Gedicht zu).

Ich veranstalte hier keinen Sympathie-Wettbewerb und auch keinen Schreib-Wettbewerb. Vielmehr nehme ich mir für Ihre Gedichte Zeit und überlege mir möglichst sorgfältig, aus welchen Gründen diese Gedichte auf welche Weise auf mich wirken, und aus welchen Gründen sie auf welche Weise auf andere Leserinnen und Leser wirken könnten.

Wenn in einem Gedicht das eine auf Portugiesisch gesagt wird, das Gegenteil auf Arabisch, dann fragt man sich beim Lesen: Wieso? Falls Sie finden, dass meine Interpretation rassistisch sei, dann überlegen Sie, wie ich zu meinem Schluss gekommen bin. Ich unterstelle Ihnen jedenfalls keinen Rassismus.
Wenn "Selbstlob" im Zusammenhang mit "Jalajala" gesetzt wird, fragt man sich: Wieso? Wenn Sie ganz genau wissen, wieso Sie das genauso geschrieben haben, dann gibt es nichts zu diskutieren. Falls Sie das Gefühl haben sollten, dass meine Einwände etwas zur Sache beitragen, können Sie sie berücksichtigen, aber niemand zwingt Sie dazu.

Assoziationen entstehen durch Verbindungen von Bildern. Beim Schreiben kann man das steuern. Wenn man nur seine eigenen Gedanken vor Augen hat, mögliche Interpretationen des Publikums aber ausblendet, kann man genauso Selbstgespräche führen – oder man ist so genial, dass die eigenen Selbstgespräche zu Bestsellern werden.

Ich glaube Ihnen, dass Sie sich beim Schreiben Gedanken machen, und möchte Ihnen Anregungen liefern, wie Sie Ihre Gedanken formulieren könnten, um den gewünschten Effekt bestmöglich erzielen.

Wenn Sie meinen Zugang für unprofessionell halten, nehme ich das zur Kenntnis. In diesem Fall würde ich Ihnen empfehlen, sich an jemanden zu wenden, der zur Sicherheit alles und jedes lobt, um sich Arbeit und Ärger zu ersparen. Es ist vielleicht verrückt von mir, aber ich nehme jedes Wort und jede Silbe sehr ernst – weil die Muse es befiehlt.

Ich sehe natürlich ein, dass das Format dieses Kurses etwas unangenehm ist: Immerhin sind meine Antworten / "Reviews" für alle einsehbar. Aber glauben Sie mir: Das ist auch für mich unangenehm. Am liebsten würde ich jeden Beitrag unter 4 Augen besprechen.

Mit freundlichen Grüßen aus Wien
Ondřej Cikán.
samya hamieda lind sagt
14.06.2021 08:02
lieber oc,
eine so schnelle reaktion. danke und so inhaltsstark. toll. ich denke, dass ich sie nach diesen zeilen wohl besser verstehe. sprache spielt halt oft mit unseren gedanken. das ist jetzt nicht zynisch gemeint. das gilt auch für das folgende.

'ich würde das sogar als rassistisch erleben.'
mit diesem satz spreche ich ganz klar für mich und ich unterstelle ihnen in keiner weise das zu sein. sollte ich das bei ihnen ausgelöst haben, tut mir das wirklich und aufrichtig leid.

diskurs ist mir ein wichtiges arbeitsmittel in all meinen projekten. ich versuche dabei inhaltlich klar zu sein. ich erwarte mir das auch von meinem gegenüber. mit ihnen scheint eine auseinandersetzung auf gleicher ebene möglich. das ist spannend und herausfordernd.

ich erlebe dieses format nicht als unangenehm.
mir fehlt einfach der direkte austausch mit ihnen und den anderen. das alleine interpretieren von texten und das einfliessen lassen vom nachdenken und der rückmeldungen in die textarbeit öffnet missverständnissen tür und tor. das ist ist in diesem fall wohl passiert.

ihren absatz 'wenn sie meinen zugang für unprofessionell halten, nehme ich das zur kenntnis. in diesem fall würde ich ihnen empfehlen, sich an jemanden zu wenden, der zur sicherheit alles und jedes lobt, um sich arbeit und ärger zu ersparen.'  möchte ich gerne vertieft verstehen, auch einordnen. im moment hat er für mich etwas emotional trotziges. das darf so sein. schreiben, die arbeit am text ist ja immer auch etwas wirklich emotionales.

nochmals danke für ihre arbeit und die möglichkeit der schriftlichen austauschs daüber.

morgendliche grüsse
samya