sie sind hier: startseite / alle beiträge / stadt und land

geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: trivialpoet

stadt und land

urban
schwingen die Städte ihr Gewicht, nicht
zum stemmen der Menschen Welt? fällt
ihr steinern schwankend Mal, fahl
wie rottot dichtes Haar, wahr?

agrar
‘s sitze gnitze Äugle uff de Saat , grad
e luschdigs Lache, wache 
Veegel ropfe, zopfe
Same raus 
aus

review von: ondřej cikán

Lieber Trivialpoet,
diese aufeinanderfolgenden Reime sind tatsächlich effektvoll, ich bin für alle Sprachspiele zu haben und Spiele sind ja auch Thema dieser Übung. Wörter wie „rottot“ sind super, sowas ist kräftig, gleichzeitig lachen natürlich die Hunde, und so darf und soll es auch sein.

Nachdem ich Ihre vorangegangenen Gedichte sehr gelobt habe, gibt es in diesem hier vielleicht Nuancen, die das ganze Gedicht unter Umständen gewissermaßen schwächen.

1) Der offen ausgesprochene Gegensatz zwischen Stadt und Land scheint etwas zu sein, das allzu phrasenhaft wirken könnte. Wenn Sie daraus z.B. Schornsteine und Nymphen machen oder Musen und Nymphen (das hätte Longos gefallen) oder was weiß ich: Krawatten und Spaten, dann wäre es nicht so „mit der Schaufel“ ausgesprochen, wie man auf Tschechisch sagt, sondern etwas subtiler. Die Überschrift „agrar“ (zum Acker gehörig) statt „rural“ (ländlich) haben Sie absichtlich gewählt? Das hört sich nebenbei gesagt wie ein Irrtum an. „Agrar“ wird ja auch nur in Zusammensetzungen verwendet.

2) Ich glaube, dass es bei solchen Klanggedichten besonders gut wirkt, wenn die Sätze insgesamt korrekt konstruiert sind. So tun Sie es auch über die weitesten Strecken, und daher „funktionieren“ Ihre Gedichte gut. Hier aber ist der Satz: „schwingen die Städte ihr Gewicht, nicht zum stemmen der Menschen Welt?“ wahrscheinlich irreführend. Soll es heißen „zum Stemmen“ oder „zu stemmen“?
Vielleicht könnten Sie sich diese Stelle nochmal anschauen und ggf. umformulieren. Sie scheint ja wichtig zu sein.

3) Absolute Kleinigkeit, nur eine Idee: Vielleicht könnte man an manchen Stellen (z.B. an den Strophenenden, die ja die Pointe ausmachen) von dem Doppelreim abweichen, damit es nicht so wirkt, als wäre der Doppelreim dort nur um seiner eigenen Existenz willen. So eine Abweichung könnte dem Ganzen Nachdruck verleihen. z.B. „wahres/klares Haar“ statt „Haar, wahr“. Auch das „raus–aus“ kommt mir nicht besonders vor, es ist ja streng genommen eine Wiederholung desselben Wortes (her-aus – aus). Vielleicht fällt Ihnen da was ein. 

Kurzum: Super Gedicht! Wenn Sie das Thema „Stadt–Land“ und „urban–agrar/rural“ etwas verschleiern, wird es viel Raum für Assoziationen bieten. 

Liebe Grüße,
Ondřej C.
Michael Köhler sagt
18.06.2021 21:17
Lieber Herr Cikán,

vielen Dank für die ausführliche Analyse. Lob ist in der Literatur ja nur ein temporäres
Statement. Jeder Text muss und soll für sich um die Zustimmung des Lesers werben.

Gegen ihre Einwände habe ich wohl einen schweren Stand.
 
Möglicherweise habe ich mich zu sehr auf das Lautmalerische kapriziert, auf die Intensität des Vordergründigen verlassen. Auch muss ich gestehen, den Hang zu besitzen, die (solide) Konstruktion zugunsten von Intuition und Eingebung hintanzustellen. Eine Schwäche, die bei versierten Lesern leicht aufzufliegen droht ;-).

1. Stadt / Land Konfrontation / agra- vs. rural:
Der Begriff wurde von mir schon mit Absicht gewählt. Der Gegensatz sollte durch die Abweichung auf die Spitze getrieben werden. Das „agrar-“ aus seinem natürlichen Wortumfeld zu entführen, ist gelinde gesagt, aber schon etwas verwegen.

Der Stadt /Land Gegensatz ist als Allgemeinplatz überdeutlich und wenig geheimnisvoll – ohne Zweifel. Mag diese Eindeutigkeit im südfränkischen Teil noch verzeihlich sein, ist sie im Sinne der Aufgabe als Grundtenor für den gesamten Text unplausibel.
Konsequenterweise hätte auf der ländlichen Seite eigentlich ein Mundartbegriff Verwendung finden müssen.

2. „zum stemmen“, ist ein unverzeihlicher Lapsus, der passiert, wenn man im Unentschiedenen bleibt.

3. So eine Kleinigkeit ist das nicht und ich muss sagen, erwischt. Man tut seinem Text aber keinen Gefallen, allzu sehr im Revier des Plakativen zu wildern.

Resümee
Ihre - mit angenehmer Zurückhaltung formulierten - Einwände kann ich sehr gut nachvollziehen.

Vielen Dank noch einmal für ihre Mühe.

LG, trivialpoet
ondřej cikán sagt
19.06.2021 15:05
Super. Es freut mich, dass mein Bemerkungen in fruchtbare Furchen fallen.