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geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: samya

תואר . chapn

heute. ja. heute. 
oder war's schon gestern? 
nein. nein. morgen ist's. 
ganz bestimmt. morgen. 
so gegen mittag. 

dort drüben beim brunnen. 
da steh. 
sitz ja nicht. 
das wäre das schlimmste. 
wirklich das allerschlimmste. 
und rauch nicht. das mach nicht. 

dann geht er vorbei. 
dein freund. der tod.  
nur einmal und dann nie wieder.

review von: ondřej cikán

Liebe Samya!

Danke für die Erklärungen zur ersten Version des Gedichts. Die Gliederung in drei Strophen tut ihm auf jeden Fall gut. 

Ich habe überlegt, ob es gut ist, dass Sie den Tod nun benennen, aber wahrscheinlich ist es gut. Das Bild des Freundes, der der Tod ist, und der „vorbeigeht“ ist schön, weil es doppeldeutig ist: er geht an einem vorbei und ist dann mal weg – oder er geht vorbei und ist endlich vorüber.

Mit Andeutung habe ich (hinsichtlich Ihrer ersten Fassung) gemeint, dass man ein Bild verwendet, mit dem der Tod assoziiert werden kann: z.B. könnte am Brunnen der Weißdorn blühen (der Tod und Hoffnung bedeutet, Dornenkrone, Sagen usf.). Oder es könnten dort Pappeln stehen, die in der Antike die Eingänge zur Unterwelt säumen, oder Weiden oder so. Oder es könnte der Tod durch einen Riss in einem der Brunnensteine angedeutet sein u.ä. Muss alles aber natürlich nicht sein, ich erkläre nur, was ich so gemeint habe.

Zu den Phrasen, die wir im Bezug auf die erste Fassung erwähnt haben: Unter Phrasen verstehe ich Wendungen und Sätze, die einem bekannt vorkommen, die schon oft verwendet worden sind, z.B. „und rauch nicht“ oder „dort drüben beim brunnen“ oder „das wäre das schlimmste“. Es ist natürlich keineswegs „verboten“ solche Wendungen zu verwenden, nur muss dann eben der Zusammenhang sie interessant machen, so wie es nun in ihrer dritten Strophe sicherlich der Fall ist.

Die erste Strophe verstehe ich nun nach Ihrer Erklärung zur ersten Fassung – und ja, diese zeitliche Unsicherheit ist als eine Art Vorgesang recht fein. 

Die mittlere Strophe gibt meines Erachtens immer noch nicht allzu viel her. Sie müssen bedenken, dass mit Brunnen und Rauchverbot im Zusammenhang mit dem Tod gewisse Dinge assoziiert werden: Lungenkrebs, amputierte Beine – und natürlich „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum“. Sie schreiben ja auch: „beim brunnen / da steh“, das hört sich stark nach Zitat an. Nun weiß ich aus Ihrer Erklärung, dass Sie das Gedicht nicht zitieren wollten. Mich würde so ein Zitat überhaupt nicht stören, im Gegenteil, aber dann würde man halt das angesprochene Du mit dem Lindenbaum assoziieren, und es wäre irgendwie verwunderlich, warum er nicht sitzen soll, was Bäume üblicherweise nicht tun. 

Wenn man eine „Geheimnachricht“ in ein Gedicht verpackt und darin eigene, vielleicht autobiographische Dinge chiffriert, will man meistens nicht, dass sie gleich auf Anhieb verstanden werden, ja man möchte vielleicht sogar, dass sie missverstanden, aber dennoch „nachgefühlt“ werden. Wenn man ein wirkungsvolles Gedicht schreiben will, so muss man jedenfalls bedenken, welche Bilder man mit seinen Worten hervorruft. Für den Leser ist es letztlich egal, an welchen konkreten Brunnen man beim schreiben denkt. Damit das Gedicht den Leser packt, muss er irgendwelche eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Ängste, Freuden, Lüste usf. fühlen – und das können Sie steuern, indem Sie ihn mit Bildern und Klängen und Überraschungen füttern.

Im Bezug auf die mittlere Strophe heißt das: Entweder mehr verschleiern und minimalistischer sein, ein bisschen kürzen – oder ausbauen. Ich würde zu einer Kombination tendieren: „das wäre das schlimmste“ genügt. Das „wirklich das allerschlimmste“ durch irgendein deftiges poetisches Bild ersetzen, das die Situation möglichst optimal erfasst. Wenn Sie dass „Rauchverbot“ beibehalten wollen, dann würde ich fast schreiben: „und rauch nicht. / der nebenwirkungen wegen.“ Oder so in die Richtung. Damit hätten Sie dann die Sterbehilfe angedeutet. 

Und jetzt noch eine Kleinigkeit zum Titel: das hebräische / jiddische תואר verstehe ich nicht ganz: das heißt doch „Titel“ oder? Z.B. תואר ראשון
Mein Hebräisch und Jiddisch sind freilich so gut wie inexistent, habe nur Bibelhebräisch gelernt und allzu viel wieder vergessen …

Alles Liebe!
OC