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geheimnachrichten an h.c. artmann

beitrag von: hexe21

Zwei warten auf den Zug

Einer hat fast schon die Hoffnung verloren.
Einer ist in Attnang-Puchheim geboren.

Einer hat seine Puffn vergessen.
Einer wär gerne am Fenster gesessen.

Einer hat fest an das Gute geglaubt.
Einer hat seine Muhme beraubt.

Einer hat sich archaistisch benommen.
Der andre ist gerne im Traunsee geschwommen.

Einer fuhr seine Kühe zu melken.
Einer für ein Rendezvous nach St. Pölten.

Einer war riesig und einer war klein.
Einer war traurig so glatzert zu sein.

Einer macht gerne aus Birnen Kompott.
Einer hält den Zarathustra für Gott.

Einer war gut und einer war besser.
Einer war ziemlich geschickt mit dem Messer.

Einer wurde zum Prätor ernannt.
Einer ist bei einem Unfall verbrannt.

Aber welcher war welcher? Und wer war wer?
Ich weiß es nicht Kinder. Das Leben ist schwer.

review von: ondřej cikán

Also, liebe Hexe21, das ist ein sehr lustiges und virtuoses Gedicht!

Ich habe mich bemüht, aus den Anspielungen zu ersehen, wer die beiden gemeinten Herren sein könnten – und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie da wohl einiges chiffriert und vermutlich mehrere Leute miteinander vermengt haben. Gut so, das Thema sind ja Geheimnachrichten. 
St. Pölten scheint mir jedenfalls auf meinen geliebten Wolfgang Bauer anzuspielen („Fichten, Fichten, wo ist St. Pölten?“), der dieses Jahr 80 geworden wäre. Warum sollte da sonst St. Pölten stehen?
Falls Attnang-Puchheim und der Traunsee den Film/Roman „Menandros & Thaïs“ andeuten und eine Geheimnachricht an mich sind, danke ich dafür und werde beim König der Könige Xerxes ein gutes Wort für Sie einlegen.

Zu ihrem Versmaß:

Die meisten Ihrer Verse sind in einem daktylischen Tetrameter verfasst:

¯˘˘ ¯˘˘ ¯˘˘ ¯˘ 
z.B. Einer hat fast schon die Hoffnung verloren.
z.B: Einer war ziemlich geschickt mit dem Messer.

Sehr, sehr schön ist das!

***
In manchen Versen lassen Sie eine Senkung aus:

¯˘ ¯˘˘ ¯˘˘ ¯˘ 
z.B. Einer wurde zum Prätor ernannt.

***
Das würde überhaupt nicht stören, wenn die einzelnen Verse metrisch eindeutiger wären. In manchen Ihrer Verse ist aber die rhythmische Struktur nicht ganz klar:

¯˘˘ ¯˘˘ ¯˘˘ ¯˘ 
oder

¯˘ ¯˘ ¯˘ ¯˘˘ ¯˘ 
z.B. Einer ist in Attnang-Puchheim geboren.

***
So kommt man beim Lesen in manchen Verspaaren ins Holpern, z.B.:
Einer fuhr seine Kühe zu melken.
Einer für ein Rendezvous nach St. Pölten.

Würden Sie hier schreiben:
Einer fuhr los, seine Kühe zu melken,
wäre das Versmaß klarer.

***
Wenn man das Versmaß durchgehend einhält, stören auch einzelne metrisch uneindeutige Verse nicht, weil man beim Lesen im Rhythmus bleibt. Wenn man den Rhythmus gerne brechen und abändern möchte, dann sollten die Verse metrisch möglichst eindeutig sein, damit man beim Lesen nicht überlegen muss, ob man den einen oder anderen Vers „richtig“ gelesen hat.

Aber das sind Feinheiten, die Sie offenbar beherrschen, und es würde wohl genügen, wenn Sie Ihr Gedicht noch einmal durchsehen. Ich schreibe all das hier eher für die metrisch weniger geübten Kolleginnen und Kollegen, die vielleicht mitlesen.

***
Ein einziger Vers hat übrigens einen Auftakt:
Der andre ist gerne im Traunsee geschwommen.

Außerdem steht nur hier „Der andre“. Ist das Absicht?

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Zum Inhalt:
Nur im siebten Verspaar springen Sie plötzlich ins Präsens. Das stört mich. Es wirkt ein bisschen so, als wäre das nur dem Versmaß geschuldet – und der Trick ist ja, alles so wirken zu lassen, als wäre dem Versmaß nichts „geschuldet“, sondern als ergäbe sich das Versmaß „von alleine“. 

Außerdem irritiert mich ein bisschen der Vers:
Einer ist bei einem Unfall verbrannt.
Er wartet doch auf den Zug, wie kann er dann verbrannt sein? Außerdem ist das – falls Sie nicht auf etwas Konkretes anspielen – ein ziemlich hartes Bild, das die Fröhlichkeit des restlichen Gedichts bricht. Oder anders: Es könnte so wirken, als meinten Sie, dass es lustig sei, wenn jemand verbrennt (natürlich tun Sie das nicht).

Ganz ein bisschen stört mich vielleicht die beraubte Muhme. Vielleicht ginge da was Lustigeres (falls es sich nicht um eine Anspielung auf irgendein echtes biographisches Detail handelt). 

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***

Wolfgang Bauer ist übrigens für Tollkirschenkompott berühmt (siehe Mikrodramen).

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Bitte schicken Sie mehr! Ihr Gedicht hat mir großen Spaß gemacht. 
Die Sprache ist das Geschenk der Musen. Der Rhyhtmus der Sprache ist der Rhythmus des Kosmos. Versmaße sind ein kosmischer Verstärker. 

Alles Liebe OC.
samya hamieda lind sagt
08.06.2021 10:42
sie haben mich an den bundesbahnblues erinnert, den ich immer noch sehr mag.
ihr gedicht finde ich sehr inspirirend und wohltuend, sie schicken mich damit auf eine traumreise. danke vielmals.