beitrag von: johanniko
blattkrone (in zwei übersetzungen)
a.
wenn du dir keine krone aufsetzest, bleibst du ein blatt.
nur wenn du ein blatt bleibst, kann auf dir geschrieben werden : ohne ansehn von gut oder böse.
b.
kleidest du dich nicht in herrlichkeit, bleibst du ein leeres blatt.
nur auf dir, dem leeren blatt, kann abgetragen werden alles : ohne glanz, ohne schande.
review von: ondřej cikán
Vorweg: Sind da wieder Anspielungen auf Artmann versteckt, die ich peinlicherweise nicht sehe? :)
Und nun zur Sache:
Sehr schön ist Ihr Spiel mit „Krone“ (Baumkrone) und „Blatt“. Das ließe sich theoretisch ausbauen (s.u.)
Sehr schön, aber vielleicht mit einer größeren Klarheit formulierbar, ist Ihr feiner Kontrast in der jeweiligen Pointe: Auf ein leeres Blatt kann noch geschrieben werden, und zwar ohne Vorurteile („ohne ansehn von gut oder böse“). Und nur von einem leeren Blatt kann noch alles „abgetragen“ (sc. „gelöscht“) werden, und zwar ohne Wertung („ohne glanz, ohne schande“).
Weil das nunmal meine Aufgabe ist, ein paar Vorschläge:
Möglichkeit A:
Möchte man die Pointe betonen, wäre es wünschenswert, den Text von ablenkendem Ballast zu befreien – und ihn noch schlichter zu gestalten. Dann käme z.B. die Verbindung von „gut oder böse“ und „ohne glanz, ohne schande“ besser zur Geltung. Also: Warum braucht man in B „herrlichkeit“? Wäre es nicht besser, die Wiederholung ebenfalls mit „krone“ zu beginnen und eine nur andere Nuance hinenzubringen? Z.B. „wenn du kronenlos wachsest“ o.ä. (wenn man „einzelnes Blatt“ betonen will, das kein Teil einer Baumkrone ist) oder im Gegenteil etwas wie „wenn du in einer krone schatten gedeihest“ (wenn man einen neuen Gedanken vom Blatt als einem Teil einer Krone hineinbringen möchte).
Durch parallele Formulierungen werden die Gedanken außerdem klarer fassbar: z.B. „wenn du dir keine krone aufsetzest“ – „wenn du dich ohne herrlichkeit pflanzest“ o.ä. und: „ohne ansehn von gut oder böse“ – „ohne ansehn von glanz oder schande“ – oder rhythmisch besser, chiastisch: „ohne ansehn von gut und böse“ – „ohne ansehn von schande und glanz“ („und“ statt „oder“, damit in B sicher keine drei Senkungen aufeinanderfolgen: „schande oder glanz“).
Möglichkeit B:
Die Sache ließe sich natürlich im Gegenteil auch ausbauen.
1) Es gibt ein tschechisches Märchen darüber, dass ein Name für sich allein nur ein leeres Wort ist. Erst durch Taten wird der Name erfüllt (beschrieben). Man kann also „Vollvase“ heißen, aber sobald der Name „Vollvase“ mit guten Taten erfüllt ist, bedeutet der Name „edler Ritter“ – und alle Kinder wollen so toll wie der Ritter „Vollvase“ sein.
2) Zu Ihrem Spiel mit der Krone und dem Blatt sind mir zwei Gedichte aus dem Corpus Priapeorum eingfallen: Dieses Corpus versammelt lustig-vulgäre lateinische Gedichte an den Fruchtbarkeitsgott Priap, der als hölzerne Vogelscheuche mit einer riesigen mentula (phallus) Gärten bewacht und alles niedervögelt (!), was einen Apfel o.ä. stehlen möchte. Das Witzige an den Priapeen ist, dass sie sich über den hölzernen Gott sehr lustig machen. So und jetzt zum Ding: Für diesen Gott wurden Gedichte auf Zettel geschrieben und in die Obstbaumkronen gehängt.
Das Gedicht 60 lautet:
Si quot habes versus, tot haberes poma, Priape,
esses antiquo ditior Alcinoo.
Wenn du so viele Äpfel wie [dargebrachte] Gedichte hättest, Priap,
wärst du reicher als der alte Alkinoos.
Und im darauffolgenden Gedicht 61 beschwert sich dann ein Baum sinngemäß, dass er vor lauter mit schlechten Gedichten beschriebenen Blättern (natürlich sind die Priapeen nicht schlecht!), die in seinen Zweigen hangen, keine Früchte mehr tragen kann. Die Opfergaben verhindern also seine Fruchtbarkeit.
3) Leicht angedeutet habe ich bereits oben, dass außerdem ein Spiel mit dem Blatt mit oder ohne Baumkrone möglich wäre: Ohne Krone ist ein Blatt allein – vielleicht zur Erde gefallen usf. Ohne Krone ist ein Baum nur ein trockener Stamm usw. Mit sowas könnte man auch spielen.
Man muss das Gedicht mit solchen Assoziationen natürlich nicht überfrachten, aber es macht m.E. Spaß, sie mitschwingen zu lassen (was Sie ja tun).
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Details:
„nur auf dir“ – da ist das „du“ schon sehr auserwählt. Soll es das sein? Vielleicht wäre besser etwas wie: „nur auf einem leeren blatt, das du bist“
„auf dir – kann abgetragen werden“ ist interessant, aber vielleicht unnötig irritierend.
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Zum Stil:
Sie suggerieren einerseits einen archaischen Stil durch „aufsetzest“, andererseits ist Ihre Formulierung „kann auf dir geschrieben werden“ etwas unblumig-prosaisch-heutig. Wie wäre es mit „kann geschrieben werden auf dir“? Das würde die Stelle stärker rhythmisieren und die eigenartige Wortstellung von „kann abgetragen werden alles“ vorwegnehmen.
Außerdem könnte man auch z.B. „bleibest“ schreiben.
Das mit dem Archaisieren ist so eine Sache: Wenn man es geschickt macht, lässt sich aus einem einfachen Gedanken etwas extrem Lustiges und unterhaltsam Obergescheites basteln, es lassen sich Dinge viel deutlicher als in der heutigen Sprache ausdrücken, einfach weil mehr Ausdrucksmittel zur Verfügung stehen. Man kann einfache Dinge dergestalt umständlich ausdrücken, um sie völlig überzubetonen, man kann die Rechtschreibung einzelner Wörter verändern, um sie hervorzuheben (z.B. lär statt leer, Thräne statt Träne, ihme statt ihm, denen statt den usf. – Blatt bleibt aber nun einmal Blatt). Man kann die Konjunktionen verstärken, sintemalen sich „wenn anders“ deftiger anhört als das einfache „wenn“ oder „dieweil / weilen“ viel kräftiger ist als „weil“. Es gibt laubichte (belaubte) Äste, nervichte (muskulöse) Arme, verderbliche (Verderben bringende) Gedanken usf. etc. So kann man Klarheit herbeiführen oder umgekehrt für Unklarheit sorgen. Statt „bleibst du ein leeres Blatt“ kann man z.B. machen: „behältst du eines unbeschriebenen Blattes einsame Sehnsucht“ oder was auch immer, das habe ich jetzt nur so aus dem Ärmel geschüttelt, ist wohl übertrieben. Worauf ich hinauswill, ist: Archaisieren für sich allein ist noch nicht der Freude letzter Schluss. Vielmehr kann man mithilfe der unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten bisheriger Zeiten ganz feine, neue, unerhörte Nuancen auftragen. – Peinlich wird es nicht, denn solang so ein „peinlicher“ Stil schlüssig ist, bleibt er lustvoll und lustig.
Und auf diese Weise könnten Sie Ihr Gedicht zugleich vereinfachen und noch viel stärker pointieren.
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Ich weiß, dass das jetzt viel auf einmal war, aber vielleicht bringt Sie das auf ein paar feine Ideen …
Alles Liebe,
OC