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zeit der übersprungshandlungen

tex rubinowitz
teil 2
heute ist irgendein wochentag, da bin ich mir sicher. ist es schon eine übersprungshandlung einfach den kalender zu ignorieren, dass einem die uhrzeit egal ist, egal auch ist, was man anhat, ob man gewaschen und gekämmt ist, einfach zu behaupten, ab jetzt ist jeden tag sonntag, ...

... dieser verdammte, zähe sonntag, der tag, an dem nie was weitergeht, man still steht, die leute ihre autos waschen und rasen mähen, und formel 1 schauen, das schiere grauen. ich hab nie die klagen über montage verstanden, der montag ist der übel beleumundetste und besungenste tag der woche. “immer wieder sonntags kommt die erinnerung” wie cindy & bert sangen, ich will den inhalt des songs gar nicht kennen, dass ich weiß, dass es dieses lied gibt, reicht schon, ich reime mir den inhalt einfach zusammen, dass bert sonntags die erinnerung an einen geregelten wochenablauf überkommt, eine struktur in seinem leben, dass cindy ihn daran erinnert, dass er während der woche schuftet und klagt, und sich doch immer aufs wochenende freut, sich aber bereits am freitag dermaßen komatös abschießt, dass der samstag nicht mal stattfindet, und er sonntags waschlappig in den sprichwörtlichen seilen hängt, und sich wünscht, die geregelte woche finge wieder an, der montag ist sein lieblingstag, da könne er sich schon wieder aufs kommende wochenende, auf die struktur, an die er sich klammert, um sie am freitag zu zertrümmern, usw usw.

das gibt’s jetzt nicht mehr, die viren haben unsere kalender und strukturen und unsere disziplin zerstört. und jetzt haben sie uns auch noch den songcontest genommen, das starrste, flamboyanteste fernsehmöbel, den heiligen tag irgendwann im mai, seit 65 jahren, er wird nicht stattfinden, es wird keinen trost geben, wir sind verlassen, wir wurden verlassen, wir werden verlassen worden sein, an diesem einen monströs aufgblasenen tag im mai, ein tag wie eine seifenblase, der uns alle verbindet, auch die, die den tag verachten, die narren, die behaupten, beim songontest ginge es in erster linie um musik, die schillernde seifenblase ist bereits geplatzt, vielleicht weil wir die seife jetzt für etwas anderes benötigen. ich glaube cindy & bert waren auch mal beim songcontest, das ist mir egal, ich werde das nicht googeln, das wäre als übersprungshandlung vertane energie. und es gibt ja auch nur ein lied in der geschichte des wettbewerbs, das so gesättigt und reich an leidenschaften, gesten, subgesten ist, dass dieses eine lied einen ganzen jahrgang ersetzt, und vielleicht sollten wir das dann an diesem einen tag im mai hören, raphael “yo soy aquél”, das war 1966, der pathos quoll diesem kleinen spanier aus jedem knopfloch, jedem seiner zwei knopfaugen, diese komplett abgezirkelte theatralik, jede geste war mit essentieller bedeutung aufgeladen, perfekt einstudiert, er schaut von unten nach oben, uns an, hebt eine augenbraue, schaut resigniert, er spielt einen kleinen jungen, den man beim griff in die keksdose erwischt hat, und dann den jungen soldaten, der krieg spielt, er verarscht sich selbst, und dann ist er wieder todtrauriges opfer, er ist kätzchen, und dann pure wut, stummfilm und stierkampf in einem. alles ist in dem lied, alles was man braucht, fehlt nur noch das stück seife zum händewaschen.


www.youtube.com/watch?v=KjLmEJl5YqM