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vage ist die waage

von rosa pock

 

wie alle damen kenne ich gewichtsprobleme, auch wenn sei was du bist und nicht was du hast zu meinen devisen zählt. zuhause besitze ich keine waage, eine überlistung, um meinem gewicht auszuweichen. und um keine bauchmasse quantitativ – zum dessert nach mit höchstem genuss um mitternacht verzehrtem cordon bleu – zum höhepunkt nach gesättigter gier als schlag den ober noch gratis auf die nicht existente waage serviert zu bekommen. da lache ich mir lieber die personenwaage vor dem eingang in den rosengarten an.

mein spaziergang beginnt in der schönborngasse, dann die josefstädter straße links, als wegweiser dient der stephansdom, der mir den rechten weg weist, und als proviant kaufe ich in der bäckerei zwei krapfen, um die für die gewichts-kontrolle notwendigen zwanzig-cent-stücke in kluger voraussicht zur verfügung zu haben. einen sprung auf die waage wage ich übrigens nur nach erfolgreich ausgeführter zweitages-weindiät, wenn ich die überflüssigen bauchpfunde hochprozentig ertränkt zu haben glaube. es ist anfang dezember, die nächte sind ungewöhnlich kalt, es ist nachmittag und schnee verzehrt den staubzucker meiner jause. nach zehnminütigem marsch stehe ich nun vor dem ziel meiner wünsche, der personenwaage im öffentlich städtischen dienst von wien.

ich lege meinen wintermantel  fürsorglich auf den gehsteig, fein geordnet daneben meine handtasche, nicht vergessen darf ich den schmuck, auch er hat sein gewicht, den ich noch neben den mantel säuberlich geordnet ablege, und kaum zu glauben, aber wahr, der zeiger bleibt bei fünfundfünzig kilo stehen, bei meinem gewicht von siebzig kilo hat diese diät wirklich eine erstaunliche wirkung gezeigt. doppelt hält besser, zu schön, um wahr zu sein, beim zweiten zwanzig-cent-stück bleibt der zeiger bei fünfundsechzig kilo stehen. das scheint mir schon realistischer zu sein, fünf kilo in zwei tagen, bei meinem stoff-wechsel, das ist ungewöhnlich, aber möglich. aller guten dinge sind drei, und jetzt wiege ich fünfundziebzig kilo und kehre als durchschnittsgewicht wieder nach hause. 

von der poesie des ablaufdatums

essay von fritz ostermayer

 

wenn nutzen und sinn sich von einem einstmals nützlichen und sinnvollen objekt verabschieden, dann erwächst aus diesem verlust langsam etwas neues: eine poesie der form, der die funktion abhanden kommt. die poetische schönheit von vintage-klassikern à la remington-schreibmaschine, wurlitzer-jukebox oder citroën 2cv speist sich ja nicht primär aus deren nostalgischer patina, sondern vor allem aus dem melancholisch stimmenden wissen um ihre obsoleszenz trotz fortdauernder gebrauchstauglichkeit. mögen die objekte auch noch gut in schuss sein, so ist ihre zeit doch abgelaufen. die weit leistungsstärkeren und bedienungsfreundlicheren nachkommen rauben solchen dingen im ausgedinge alle effizienz – und denen bleibt nur noch die aura.

walter benjamins berühmte definition der aura “als einmalige erscheinung einer ferne, so nah sie sein mag” bezog sich auf “das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit”. der philosoph beklagt in seinem gleichnamigen aufsatz das verschwinden von aura durch die vervielfältigung eines werkes, freilich nicht ahnen könnend, dass spätere künstlergenerationen – allen voran pop art und deren ikone andy warhol – gerade dem seriellen eine neue, massen- und maschinenkompatible aura einzuhauchen imstande waren.

warhol im hinterkopf und die poesie des nutzlosen im herzen spüre ich in wiens eigenartigstem stadtmöbel – der öffentlichen waage – ebendiese aura eines einmal in serie gegangenes objekts, das nunmehr gerade ob seines eingeschriebenen ablaufdatums dabei ist, zu einem kultobjekt zu werden. stehen diese komischen säulen nicht herum wie ihrer bestimmung fremd gewordene totems? oder wie aus der zeit gefallene retrofuturistische skulpturen, die angeheiterte runden immerhin noch zu semivandalistischen belastungstests ermuntern: wie viele rauschkugeln passen auf die kleine plattform? ab welchem gewicht dreht die waage durch?

trotz des erfolgs von facebook, youporn und ähnlichen sozialen plattformen ausgeschamter selbstentblößung drängt sich doch gleich einmal die frage auf: wer um himmels willen möchte sich heute noch durch die öffentliche kontrolle seines körpergewichts exhibitionieren? wer wirft denn 20 cent in einen schlitz, um so eine durch kleidung und schuhe ohnehin verfälschte auskunft über seine physikalische masse zu kriegen? zumal doch eh jeder, der auf sein äußeres achtet (alter ausdruck für body-management), eine eigene personenwaage besitzt – längst schon kleine hi-tech-monster mit “smart body analyzer” zwecks messung von herzfrequenz und körperfett und wahrscheinlich bald auch mit stuhlgang-app. dagegen stinkt so ein analoger nur-kiloanzeiger doch gehörig ab! warum aber stehen dann noch immer mehr als 100 waagen an straßenbahnhaltestellen, verkehrsknotenpunkten und in zahlreichen parks der wienerstadt herum? sigmund freud, hilf!

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gesichert ist wenigstens, dass die erste personenwaage hierzulande 1887 aufgestellt wurde und ein breites publikum ein jahr darauf begeistert davon notiz nahm. auf der im mai 1888 eröffneten großen “jubiläums-gewerbe-ausstellung” im wiener prater präsentierte die waagenfabrik c. schember & söhne den besuchern erstmals “automatische waagen mit münzeinwurf”. “das zeitalter der münzautomaten war angebrochen”, schreibt der historiker und stadtforscher peter payer in einem aufsatz über die öffentlichen waagen in wien und listet die ersten produkte zum rauslassen auf – schokolade (fa. stollwerk), postkarten, rasierklingen: “voraussetzung (...) war eine technisch einwandfrei funktionierende münzprüfung. diese war um 1891 bereits soweit verfeinert, dass gewicht, durchmesser, dicke, härte, prägung und ränderung der eingeworfenen münzen exakt kontrolliert werden konnten” (payer). die öffentliche personenwaage zählte zu dieser ersten generation der münzautomaten, das wiegen kostete drei kreuzer, der gewogene konnte sich dabei noch in einem an der waage angebrachten spiegel betrachten. strafverschärfend wohl bisweilen, aber doch auch beleg dafür, dass die selbstbegutachtung coram publico sich noch im stadium narzisstischer unschuld befand. oder der unterhaltungswert des wiegens in gesellschaft über mögliche schamgefühle triumphierte.

zuerst war die gesundheit, dann erst kam der schlankheitswahn: die erfolgsgeschichte der öffentlichen personenwaage könnte durchaus auf die im “roten wien” der zwischenkriegszeit propagierte gesundheitsvorsorge zurückzuführen sein. “der arbeiter” sollte endlich nicht nur seinen alkoholkonsum mäßigen und auf das rauchen verzichten, sondern – ausgerechnet im schnitzel- und schweinsbraten-mekka! – auch nicht übergewichtig in die sozialistische zukunft schreiten. und “der klassenfeind” half eifrig mit, die botschaft unters volk zu bringen. so fand sich auf den waagen der firma schember die aufschrift (als wär’s ein mahnendes transparent zum maiaufmarsch): “im interesse ihrer gesundheit prüfen sie oft ihr gewicht!” dass das bald darauf herrschende naziregime mit seinem kult des gestählten körpers einen solchen satz nur zu gern unterstrich, muss nicht extra betont werden, schließlich ging es nun gleich um den “gesunden volkskörper“ als ganzes. neu hinzu kam in dieser finsteren zeit ein schild mit dem idealgewicht des deutschen mannes und der deutschen frau. der schlankheitswahn musste noch ein wenig warten – nach dem krieg wollte man/frau sich vorerst einmal ordentlich sattessen.

aber er kam, der wahn. spätestens in den späten sixties. er förderte den absatz handlicher badezimmer-waagen und den schwund ihrer wuchtigen kollegen von der straße. einige waagenhersteller reagierten auf den rückzug der gewichtskontrolle ins private mit modellen ohne mess-skala, die einem das gewicht quasi klammheimlich auf einem kärtchen ausdruckten, sodass die scham wenigstens nur auf einen selbst zurückfiel und ein eventuelles fremdschämen von zeugen wegfiel. zu einer renaissance von waagen im öffentlichen raum sollte es aber trotz dieser diskreten art von gewichtsauskunft nicht mehr kommen. der menschliche exhibitionismus fand im lauf der zeit weit lohnendere kanäle, in die er sich enthemmt ergießen konnte, gehen die nachmittags-talkshows doch seit jahren über vor gewogener, maßloser, gemästeter und gegenseitig für entsetzlich befundener leiber. sigmund freud, schau oba!

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es ist später nachmittag, ein strahlender frühlingstag. ich streune seit über einer stunde um die prächtige waage zwischen parlament und meinem lieblingswürstelstand bei der straßenbahnhaltestelle dr.-karl-renner-ring herum. das relikt glänzt in der sonne wie ein monströser goldbarren. der familienbetrieb popp aus dem burgenländischen pinkafeld, der ende der 1980er jahre den kompletten restbestand der legendären berkel-waagen aufkaufte und nun gleichsam als monopolherr über das wiener wiegen herrscht, kümmert sich sichtlich fürsorglich um seinen waagenpark. keine spur von vandalismus, als wäre das trumm gestern fabriksneu hier aufgestellt worden. ich bin als leger herumstreunender in observierender mission unterwegs. ich will wissen: wer zum teufel sichert der firma popp das überleben? wo sind denn nun endlich die waagenfütterer, egal aus welchem grund sie füttern, ob aus jux und tollerei oder doch dem eigentlichen zweck verpflichtet?

freilich habe ich eine vermutung, aber dass sich diese nach geschlagenen achtzig minuten des wartens als klischee bestätigt, hätte doch nicht sein müssen: ein grüppchen junger asiatischer frauen (koreanerinnen?) kommt den ring entlanggeschlendert, entdeckt das objekt und erkennt sofort seinen fotografischen kuriositätengehalt. obwohl sie für ein erinnerungsfoto – brav hintereinander und einzeln – doch gar kein geld einwerfen müssten, zahlen die vier heftig kichernden touristinnen doch je 20 cent. japanerinnen (?) wissen halt noch um die richtige abfolge eines rituals!

öffentliches abwiegen in wien: eine touristische belustigung, ein kleines schrulliges vergnügen in einer als nicht unschrullig geltenden stadt. 80 cent in 80 minuten. für die familie popp hoffe ich, dass mein sample nicht repräsentativ war; für wien, dass diese rührenden überreste einer dahingegangenen alltagskultur trotz – nein: gerade wegen ihrer funktionalen sinnlosigkeit – noch lange das stadtbild bereichern.