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café gerstl

beitrag von: Kathrinie

zeilenschnitt

kommt eine zeile geflogen
wimmeln wörter in cirren, verschwinden
im stream aus silben und gedichten

hätt ich ihr die flügel geschnitten,
hätt sie wurzeln getrieben, die zeile,
wär sie geblieben?

ribbelt am wind, will sich binden

hätt ich sie vertrieben, 
hätt die zeit sie geschöpft, 
wär sie geschrieben?

auch luft kann stürzen, kann trügen

hätt ich die silben der zeile verwiesen,
hätt kupiert ich sie und zerrieben,
hätt ich geschnitten mich mit
    

Orphée, Regensburg


review von: augusta laar

schönes melancholisches gedicht, weil es erstens neue wörter gibt wie „cirren“ und „rippeln“ - ein bisschen schade, dass es nicht mehr davon gibt. die neuen wörter haben etwas zukünftiges, etwas noch nicht dagewesene, verweisen auf frische neue zeiten. dann wird es zweitens: melancholisch - "geschnitten, getrieben, geblieben .. „ alliterationen säumen das gedicht ein, wollen uns sprachlich aus dem alltag erheben, nur wohin? "sich binden an den wind" - ist eine stimmige, melancholische metapher, der wind gilt als flüchtig, und sich an ihn zu binden hieße, einem vorübergehenden phänomen zu vertrauen, das ist echtes dichterleben! darauf folgt: "luft kann stürzen und trügen" - ja das kann sie, die worte sind etwas pathetisch - die würde ich nochmal anschauen, ob es was luftigeres gibt und etwas nach vorne geneigtes, das rückwärtige verlangsamt meistens den rhythmus. das trügen und stürzen ist zwar ein erweiterter binnen-reim, erinnert aber an episch dramatische dichtung aus dem 19. Jahrhundert:"Wie magst du kühn dich stürzen in gräßliche Gefahren, - Dem Orcus hin dich ... von meinen Siegerspuren, Das Opferthier verhieß, nicht trügen die Auguren! (Sigmund Schlesinger um 1839) ... "kaum den Göttern hat er gedankt, so stürzen schon Verrath Und List auf ihn – o ungeheuer! unerhört! – Ja ich erkenn' es nun, nicht trügen Zeichen Der Götter;"  … (Friedrich Graf von Kalkreuth um 1824...). gäbe es denn auch etwas zeitgenössischere wort-alternativen? die letzte strophe lässt uns dann ausklingen mitten im 19.jhdt. "hätt ich die silben der zeile verwiesen", auch mit der syntax im raum, hm, die vorletzte zeile mit dem kupieren gefällt mir, kupiert wird ansonsten der schwanz von hunden oder pferden. nachdem der schwanz die steuerung, oder selbststeuerungskräfte der wesen an sich ist, gilt das auch für unsere "zeile", nur, die satz-drehungen muten recht speziell an - was will uns die dichterin damit sagen? es klingt etwas weihevoll, aber sagen wir lieber melancholisch, so ist halt das leben der dichter auf diesem planeten, sie fühlen eben mehr … das meine ich durchaus ernst.
Kathrin Niemela sagt
16.05.2018 22:16
Vielen Dank, ja, ich werde mir die angesprochenen Textstellen noch einmal vornehmen und das 19. gegen das 21. Jahrhundert tauschen. Ach, die Melancholie, ja, wenn einem eine Zeile zufliegt und man sie nicht zu fassen vermag!