beitrag von: Brava06
Du scheinbar perfekter Vollvisierhelm, du
Seit einem Jahr gehörst du mir. Eingebildet hab ich mir dich, weil du sicherer bist. Im Fall der Fälle. Und auf alle Fälle eine richtige Entscheidung des Kopfes. Hat mir der Verkäufer gesagt. Fesch, modern, Visiere zum Wechseln und eine Lackierung, die mit dem Chrom meines Motorrades um die Wette glänzt. Ein professioneller Verschluss, speziell entwickelt für Rennfahrer. Was man braucht bei seinen Wochenendausfahrten. Und so teuer, dass ich dich nicht mehr am Rückspiegel hängen lassen kann, wenn ich absteige. Abscheu hat sich zu Hass gesteigert.
Ich hasse dich, weil du mich isolierst, alle meine Sinne abschnürst beim Motorradfahren, du meine Mauer bist nach draußen, zu den anderen Menschen, zur Landschaft. Ich verachte dich, dass ich mit dir auf Gedanken komme, die nichts mit Freiheit und sich spüren zu tun haben, nicht streifen können, weil du sie blockierst. Weil sich alles gedämpft anfühlt.
Was vermisse ich meinen Jethelm, alt, schiach, dreckig, aber offen! Jede Fliege habe ich volley übernommen mit den Wangen und Lippen, mit der Nase. Die Welt habe ich intensiver wahrgenommen. War nicht isoliert, habe den Fahrtwind genossen, je nach Jahreszeit warm oder kalt. Die Wiesen habe ich gerochen, die Bächlein neben den Straßen habe ich mit meiner Nase gespürt, die Bäume geschmeckt, das Harz, die Blätter, die Nadeln.
Mit dem Alter, das merke ich verstärkt, wird vieles der Sicherheit geopfert. Behalte ich dich deshalb, du scheinbar perfekter Vollvisierhelm, du?
review von: stefan slupetzky
ein besonders interessantes thema: freiheit (auch die freiheit der selbstgefährdung) oder sicherheit (auch staatlich diktierte sicherheit)? ich selbst bin ja kein biker, aber ich kann mir das dilemma sehr gut vorstellen.
schön, wie sich der text zum ende hin entwickelt: was tatsächlich unseren hass erregt, ist weder unser vollvisierhelm noch unser diätplan oder unser nikotinpflaster. es ist das altwerden, das die leichtigkeit der jugend nach und nach erstickt.