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der diskrete charme der funklöcher

beitrag von: sonja

Der Anfang

Sie ist die erste am Anlegesteg. Die Wellen schlagen ans Ufer, eine Entenfamilie schnattert vorbei, Autos kommen angefahren. Dann die Fähre.
„Guten Morgen“, grüßt der Fährmann. Sie nickt und gibt ihm das Geld für die Überfahrt. 
Wenig später holt sie ihr Handy aus der Tasche. Kurz sieht sie noch die neue Nachricht auf dem Display, da öffnet der Fahrer des Autos hinter ihr seine Tür, mit viel Schwung tut er das, der Schwung reicht bis zu ihrem Ellbogen und – platsch! - verschwindet das Handy im Fluss. 
„Ach du liebe Zeit“, sagt der Autofahrer. „Habe ich Sie erwischt? Das tut mir leid, tut Ihnen etwas weh, ist etwas passiert?“
Sie sieht von der Stelle am Fluss, an der ihr Handy verschwunden ist, zum Autofahrer, dann wieder auf den Fluss. Bis zu zwölf Meter tief kann er sein, hat sie irgendwo gelesen. Ein Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht.
„Nein“, sagt sie, „es ist nichts passiert.“
„Ich habe Sie gar nicht gesehen“, sagt er. „Wirklich, es tut mir leid.“
„Es ist ja nichts passiert“, wiederholt sie.
Schon schrappt die Fähre ans Ufer. Er wirft ihr noch einen Blick zu, steigt dann wieder ein. Wenig später geht die Schranke hoch. Alle herunter von der Fähre, alle hinauf auf die Fähre. 
„Und Sie?“, ruft ihr der Fährmann zu. „Wollen Sie heute nicht aussteigen?“
Sie überlegt einen Moment. Doch, denkt sie. Genau das will ich.
Und dann fährt sie einfach wieder zurück.

review von: heinrich steinfest

In der Tat, das ist ein „Anfang“, möglicherweise der Anfang von vierhundert Seiten einer Familiengeschichte, eines Kriminalromans, einer großen Liebe und einer ebenso großen Verzweiflung. Oder auch nur die Geschichte einer Figur, die mittels dieses Verlusts auf immer mit diesem Fluß und dieser Fähre verbunden bleibt. Dieser Anfang scheint alles zu ermöglichen. Ich würde mir aber – den Text als geschlossenes Gefäß betrachtend – doch einen kleinen Ausblick auf die Zukunft wünschen. Eine Andeutung. Ein Versprechen. Eine Ahnung. 
Und an der einen oder anderen Stelle noch etwas mehr Mut bezüglich der Sprachbilder. Wie könnte man das Aufklatschen des Handys auf dem Wasser – und das hat ja fast so etwas, wie wenn in Cocteaus Film Orphée Jean Marais durch einen wässrigen Spiegel ins Reich der Toten tritt – anders als durch ein „platsch!“ zum Ausdruck bringen?
Aber wie gesagt, es ist ein Anfang, der das Spiel der Möglichkeiten evoziert.
sonja kettenring sagt
14.04.2021 21:11
Das finde ich jetzt witzig, dass Sie ausgerechnet das Reich der Toten erwähnen. Die sind hier nämlich durchaus relevant, also eigentlich, irgendwie haben sie es dann doch nicht in den Text geschafft (oder na ja, wurden herausgekürzt). Und alles weitere, was ich dazu sagen könnte, würde sich ziemlich nach Rechtfertigung anhören und meine Texte rechtfertigen, das will ich nun wirklich nicht.

Vielen Dank in jedem Fall!

Vielleicht nutze ich die Gelegenheit auch noch, um eine Frage in den Raum zu stellen, nämlich die, ob es auch erwünscht/gewollt/so gedacht ist, etwas zu den Texten der anderen zu sagen?
schule für dichtung sagt
15.04.2021 10:44
wenn von teilnehmenden gewollt, können gerne anmerkungen zu den texten - in ergänzung zu den reviews - gepostet werden.
herzliche grüße aus der sfd!