beitrag von: hahnv1
Das Schnurtelefon
Als ich die Durchsage im Supermarkt höre, bin ich plötzlich zwanzig Jahre jünger und durchlebe den schlimmsten Tag meines Lebens wieder. Es liegt nicht nur an der Stimme, sondern vor allem an den Worten.
Es sind exakt die gleichen Worte, die ich damals durch das Schnurtelefon gehört habe, bevor der rote Wollfaden riss. Die Polizei fand meine Tochter später in einem abgelegenen Bach. Sie umklammerte noch die Blechdose.
Ich hadere nicht. Nicht nach zwanzig Jahren.
Am Ende seiner Schicht schnappe ich ihn mir. Gefesselt kauert er auf dem Beifahrersitz. Wir lassen die Stadt gerade hinter uns, als sein Telefon klingelt. Vom Display strahlt uns eine Teenagerin an. Ein Monster mit Familie. Der Glückliche.
»Ihr Leben hängt von deinen Worten ab.« Ich nehme den Anruf entgegen.
»Dad, wo bleibst du?«
»Ist grad viel los.«
»Aber heute ist unser Abend! Ich hab das Popcorn schon fertig.«
»Fang schon mal ohne mich an.«
»Niemals.« Leicht empört.
»Doch, doch, mach ruhig.«
Verunsicherte Stille.
»Schatz, ich muss jetzt los.« Er scheint zu überlegen, was er noch sagen soll, und greift auf die Worte zurück, die seit zwanzig Jahren in meinem Kopf spuken. »Ach, und falls wir uns nicht mehr sehen: Guten Tag, guten Abend und ’ne gute Zeit.«
Ich schleudere das Handy aus dem fahrenden Wagen. Stunden später halten wir neben dem Bach. Beim Anblick der beiden verrosteten Blechdosen in meinen Händen versteht er. Ich habe die Wollschnur durch Nylon ersetzt. Ich schlinge sie ihm um den Hals. Sie reißt nicht.
review von: heinrich steinfest
Das ist heftig. Eben nicht nur wegen des Inhalts, der schockiert, sondern wegen der Schonungslosigkeit, mit der hier das Unaussprechliche schnörkellos und geschickt dialogisch ausgesprochen wird. So hat der Text etwas Atemloses. Er selbst – nicht nur die Schnur am Ende – hat etwas „Reißfestes“.
Man könnte überhaupt sagen, den ganzen Text verbindet eine durchgehende, sich verwandelnde Schnur.
Letztlich erscheint mir die Geschichte wie die Miniatur eines bereits bestehenden Romans (auch wenn dieser gar nicht existiert).
Gelungen! Beklemmend!
Gelungen beklemmend.
Einen Roman dazu gibt es nicht. Viel mehr war dieser Text eine Herausforderung an mich selbst: Kannst du in 1.500 Zeichen eine Geschichte erzählen, die mehr ist als nur eine Momentaufnahme?
Obwohl ich kein Fan der dauerhaften Erreichbarkeit bin, sind Handys doch so etwas wie eine Schnur, ein Faden, der uns mit unseren Mitmenschen verbindet, insbesondere über große Distanz oder in Krisenzeiten wie dieser Pandemie. Zu dieser Verbindung gehören auch Normen und Regeln. Was ist akzeptiertes Verhalten und was nicht? Darauf stellte ich mir die Frage: Was wäre, wenn diese Verbindung reißt? Dann kam die Idee mit dem Schnurtelefon.
Dann gab es natürlich noch den Aspekt der Sprache: Wie bringt man einen solchen Text passend rüber? So unerbittlich und gefühlstot wie der Prota sich fühlt.
Außerdem heißt es in Roy Peter Clarkes Ratgeber "Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben": Je ernster oder dramatischer das Thema, umso mehr Zurückhaltung ist gefordert, damit die Geschichte selbst erzählen kann.
Das erschien mir passend für diese Geschichte.