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der diskrete charme der funklöcher

beitrag von: wortschatz

Was die Leute sagen

Vorsichtig stand sie auf und versuchte den Raum zurück zu erobern. Ihr Körper fühlte sich noch nicht vollständig bewohnt an. Voll verschwommener, runder Formen. Langsam ging sie Richtung Parkplatz und sah, dass dort jemand stand, den sie nicht kannte aber von dem sie wusste. Von dem ihr Nina erzählt hatte. Den sie ihr auf Facebook gezeigt hatte. Sie blieb stehen und bemerkte, dass er sie gesehen hatte.      
Sie wusste, was die Leute sagen würden. Sie würden sagen, dass sie sich nicht so hätte anziehen sollen. Dass sie weniger hätte trinken sollen. Dass sie nicht ihr ganzes Geld hätte ausgeben sollen. Dass sie besser auf ihre Sachen hätte achtgeben sollen. Weil sie ja immer so schlampig sei und unverantwortlich und leichtsinnig obendrauf. Und denen, die so sind, passiert dann sowas. Und wundern tut sich darüber keiner. Wäre sie nicht eine von denen, dann läge sie jetzt im Bett. Sie stünde nicht hier, unfähig sich zu bewegen. Sie wäre nicht allein nach draußen, und aus der Zeit gestolpert und erst jetzt wieder zu sich gekommen. Dort auf den Steinstufen beim Hinterausgang. Und sie hätte nicht zu spät bemerkt, dass sie weder Mantel noch Handtasche bei sich hatte.
Sie wusste auch, was die Leute nicht sagen würden. Sie würden nicht sagen, dass Nina damals in ihrem Bett gelegen hatte. Schlafend, in T-Shirt und schlabbriger Hose. Nüchtern. Nein, das würden sie nicht sagen. Denn darüber redete es sich nicht gut. Und worüber es sich nicht gut redete, das war auch nicht der Rede wert.

review von: heinrich steinfest

Und hier als der abschließende Beitrag, der mit so einem eindrücklichen Bild beginnt, einem sich nicht vollständig bewohnt fühlenden Körper. Ein Bild, das bei mir sofort einen Sog erzeugt hat.
So ist überhaupt der Text bei aller Klarheit und Stringenz der Geschichte fein untermalt von einem weiteren Bild, dem des Aus-der-Zeit-gestolpert-Seins.
Eine Erzählung, die bei aller Dramatik eben dosiert scheint und gewissermaßen sich selbst betrachtet – wie die Protagonistin auch. Kein Wort zu viel oder zu wenig.
Danke, dass Sie diesem Text gestattet haben, sich den Raum hier zu erobern.
Sarah Gold sagt
28.04.2021 21:14
Vielen herzlichen Dank für das schöne Feedback und Ihre Zeit. Ich freu mich sehr, dass der Text gut angekommen ist. War mir nicht sicher ob es "too much" ist, weil ich es immer fürchterlich finde wenn solche Themen ins Pathetische abdriften.