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tot & lebendig

bodo hell
11 Jahre nach Elfriede Gerstls Begräbnis

- die zarte, aber beständige Elfriede (EG) scheint wie in ihrem Erdenleben so auch jetzt (11 Jahre nach dem Abschied: wozu sich damals ganz Wien ins Kondolenzbuch eingetragen hat, um dann zur kleinen Ehrengrabreihe Gruppe 40, Grab 75 zu schreiten) an vielen (jetzt Gedächtnis)Orten gleichzeitig anwesend zu sein, wenn auch immer nur für kurz und en passant, also von einem Treffpunkt und Veranstaltungsort zum nächsten unterwegs, alles wahrnehmend und meist mit einer konkreten Bezüglichkeit aufs Gegenüber zugehend, zu ihm/zu ihr hinsprechend und mit diversen Mitbringseln (etwa alpinen Edelweißbroschen und Mini-SkiAnhängern oder kleinen Plastikbrillen) im Taschl im Sackl (sie hat stets daran gedacht, was für jemand Bestimmten passen könnte), alles genauso wie seit den 70er-Jahren gewohnt:

- sei es daß sie (EG) gerade mit Reinhard Priessnitz (der wieder einmal um die Ecke in der Halle Langegasse Tischtennis gespielt hat) in der Alserstraße zur Tür hereinkommt, weil hier jemand Filmaufnahmen zur allerneuesten edition neue texte und deren ersten Autorinnen (also auch zu EG) machen will

- sei es daß sie (EG) später ihre Bleibe in der Wohnung Döblergasse (im versteckten, wenn auch auffällig gestreiften Otto-Wagner-Haus tief im Siebten) an Heimrad und Margret Bäcker als Wiener Stützpunkt weitergibt

- sei es daß sie (EG) dort im Korridor oder anderswo mit Herbert Wimmer (ist er schon wieder aus Köln zurück?) einen Fototermin der schwierigen Cora Pongracz wahrnimmt

- aber dann erscheint sie (EG) bereits bei der Präsentation ihres verzögerten Berliner Grit-‚Romans’ Spielräume (mit dem 10 Jahre jüngeren Nachwort des um 3 Jahre älteren Andreas Okopenko) im dortigen Buchhändlerkeller (wo man im Türstock stehend in beide Räume hinein vortragen muß/kann), wenn sie (EG) nicht bei der Modenschau im frischen U4 mit dem Freizeit-Model Sabine Scholl und der anderen, nämlich zweiten, später berühmten Elfriede sowie ihrem gemeinsamen Hut-Faible auftritt

- dann gibt es Zeiten, in denen alle drei Elfrieden (Czurda, Gerstl, Jelinek:||) so stark im allgemeinen Wiener Mischungs-Bewußtsein firmieren, daß manchen Journalisten ein Vornamen-Lapsus bezüglich Friederike Mayröcker unterläuft

- oder Elfriede (G) ist bereits wieder in Ernst Schmidt jrs. Filmadaption von Doderers Merowingern beschäftigt (wobei der ExperimentalFilmer am Drehort im späteren Europahaus Hütteldorf in bezug auf sogenannte SchauspielerFührung so ziemlich alle Zügel schießen läßt), nein direkt anrufen kann man Elfriede (G) nicht (das geht nur über Vermittlung ihrer Mutter in der Großfeldsiedlung), und alle scheinen 2009 darüber erleichtert, daß sich die Enkelin/Tochter Judith knapp vorm Ende doch noch mit der Autorin-Mutter versöhnt hat

- aber das Cafe Korb wird die längste Zeit aufgrund der sanitären Olfaktorik nicht mehr und nach der Renovierung doch gleich wieder frequentiert, während Karla im Namensalphabet der Fliegenden Frieda zur Freude der beteiligten Kids kunstvoll kotzt (in einer der Zeichnungen Angelika Kaufmanns)

- das Kleiderdepot im efeuüberwucherten Hinterhof Kettenbrückengasse (die Tandlerin Elfriede (G) empfängt dort auf Nr. 23, 3. Stiege parterre jeden zweiten Flohmarktsamstag Gästinnen und kommt alle halben Stunden zur versperrten Haustür, um InteressentInnen einzulassen) muß dann doch aufgegeben werden (selbstverständlich sind die 50er-& 60er-Jahrsachen gereinigt und gebügelt, aber daß sie genäht oder repariert würden, darf man nun wirklich nicht erwarten)

- in einer Stockwohnung des dritten Bezirks läßt sich in der Folge das Rudiment der Kleiderflugsammlung durchforsten, während das Wiener Literaturhaus, aber auch das Grazer Museum der Wahrnehmung (MUWA) längst eine Elfriede-Gerstl-Modenschau mit Freunden und Freundinnen (sowieso mit der fulminanten Raja Schwahn-Reichmann) realisiert hat

- jaja: der literarischen Teilvorlaß von Elfriede (G) ging ans Literaturarchiv, klar noch zu Lebzeiten, der Teilnachlaß der Modesammlung hing zuerst in Laxenburg zwischen Vitrinen und ging dann ganz in Rajas Obhut über, und was hätte die Autorin wohl zu den Analysen und Hommagen im Profileband (hg. von Christa Gürtler und Martin Wedl) 3 Jahre nach ihrem Tod und zur 5-bändigen Werkausgabe seither im Literaturverlag Droschl gesagt, wohl freudig bewegt und lapidar formulierend zugleich

- und beim letzten Besuch in der Kleeblattgasse 9 Tür 21 (mit Renald Deppe und einem Gewindeproblem linksdrehend beim Propangasbehälter für die Heizung der kleiderüberbordenden Krankenwohnung) käme eine äußerst gefaßte extrem schmale Elfriede (G) auf die Besucher zu, und wie sollten die es übers Herz bringen, sich ein Andenken zum Abschied auszusuchen

- da geben wir schon lieber die Geschichte mit den Ernst Jandl-Halbschuhen zu besten, die im (wörtlich) übertragenen Sinn für uns alle zu groß sind und in die selbstverständlich niemand zu schlüpfen sich getraut hat, so ist der Sack mit den Jandl-Schuhen in der Galerie Contact in der Grünangergasse für die Gerstl-Sammlung deponiert worden, doch wie ihn die zarte, aber beständige Elfriede (G) tags darauf abholen will, sind Jandls Schuhe weg und also auch für einen möglichen unbedarften Nachträger so gut wie nicht verfügbar

 

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