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rapid eye movement: fingierte träume

beitrag von: Seidenfeld

Kalte Füße

Wie sie hier hingekommen war, sie konnte es nicht mehr sagen. Alles was sie wusste, war, dass sie den Kopf die ganze Zeit über gen Himmel gereckt hatte und irgendwann war das Sichtfeld einfach von Bäumen gerahmt gewesen. Bäume so wie Weihnachtsbäume, die gleiche Sorte Bäume. Jetzt war sie allein und es wurde kalt, es zog bei den Schultern.
Sie wollte nicht stehen bleiben. Immer wenn sie stehen blieb, dann wickelte sie die Kälte ein und die Weihnachtsbäume begannen sie beim Namen zu rufen. Nicht dass das unangenehm gewesen wäre, im Gegenteil, es gefiel ihr und das machte ihr Angst. Wie sollte sie das denn finden, dass ihr das gefiel? Sich einfach hier hinzulegen auf den Boden, auf die Erde, der Gedanke hatte etwas Erlösendes. Er-lös-en-des. Wie sich langsam die Seele aus dem Körper löst, herausschält und der Körper nachgibt und ganz leicht wird, so als hätte er eine immense Last verloren. 
Sie dachte an das aktuelle Monat und dass es ein „R“ im Namen trug und man da eigentlich nicht einmal barfuß sein durfte. Ein „R“ wie in „Schande“. Aber die dichten Bäume hatten etwas Beschützendes, etwas Vergebendes. Sie würden verzeihen, wenn sie sich die Schuhe auszog, wenn sie sich hier kurz erleichtern würde.

review von: dorothee elmiger

folgt der blick der träumenden hier sich selbst oder einer dritten? die perspektive jener, die sich selbst im traum sieht und verfolgt, interessiert mich. im anderen fall interessiert mich die frage, woher die träumende schaut. ein ich-loser traum, gibt es das? plötzlich dort, im wald zu sein, ohne vorgeschichte, das scheint mir sehr passend zu sein – auch der abrupte schluss, die erleichterung, erlösung, finde ich sehr schlüssig. ob die seele wirklich so benannt werden würde oder könnte in diesem moment, habe ich mich gefragt. oder ob es vielleicht doch eher bei der physischen empfindung bleiben würde. und schliesslich das "r", der buchstabe und die schande: gleich an den "scarlet letter" von hawthorne denken müssen. aber warum taucht er hier auf – und vielmehr: wofür steht er? ist es eine frage der übersetzung? weiss nicht, ob der traum das verraten will.