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rapid eye movement: fingierte träume

beitrag von: Irmelie

Das ist jetzt der Ausgang

Meine Schlüssel in der Hand vor dem blauen Stahltor, auf eigene Weise fest, dicht, das Schlüsselloch fehlt, ich kann durch die Glasscheibe nach draußen sehen, zwischen den Jahrhundertwende-Schnörkeln aus blau lackiertem Stahl hindurch. Das Metall ist kühl und glatt und undurchdringlich, der blaue Lack ist ganz dicht, wie eine luftdichte, kalte Haut, die Tür ist mit Sicherheit undurchdringlich.
Die persische Hausmeisterin öffnet ihre Wohnungstür. Sie wohnt ja im Erdgeschoß. Ihre Lidstriche makellos, ihre blond gefärbten Haare, ihre Freundlichkeit ist zu traurig, ich schäme mich, ihre Hilfe anzunehmen, weil ich ihr schließlich meine verweigert hatte, ich weiß, sie will alles von mir, ihre Freundlichkeit ein einziger Vorwurf. 
Ich entscheide mich nicht und darf ich ihr ja auch nicht nahe kommen, denn es ist Corona, da setzt sie ihre Kopfhörer und ihren Mundschutz auf und sagt, du musst zum Fenster hinaus, sie haben die alte Tür wieder eingebaut, wegen der Juden. Das ist jetzt der Ausgang. 
Es ist mir sehr unangenehm, in ihre Wohnung zu gehen, aber sie macht Platz, auch sie möchte sich nicht anstecken.
Ich steige zum Fenster hinaus, was mir leicht fällt. Draußen knien Ehrenamtliche und polieren die Stolpersteine vor unserem Haus. Ich fühle mich ein wenig schuldig, nicht zu helfen, aber sie sind sehr beschäftigt und bemerken mich gar nicht. Es sind zwei Männer, die von einer Seite weg arbeiten und eine Frau, deren Gesicht ich nicht sehen kann, was mir ein komisches Gefühl macht.

review von: dorothee elmiger

lange hab ich über diese szene nachgedacht: die art und weise, wie die vergangenheit in die gegenwart drängt, wie sie sich verbindet mit den geschehnissen dieser tage, bleibt rätselhaft, auch beklemmend. die frage, was es bedeutet, sich auf unbekannte dritte, fremde nachbarn einzulassen; wem über den weg getraut werden kann; wie es sich lebt in der akuten gegenwart zwischen den zeichen und malen der vergangenheit. 

auch: welche sprache wir haben, um uns jetzt und in der zukunft über neue phänomen zu verständigen, das finde ich interessant: denn es ist corona.

die frau mit dem verborgenen gesicht, dort scheint ein schlüssel zu liegen: geht (ginge) es mit ihr weiter?
Irmi Wyskovsky sagt
25.11.2020 17:04
[Stolperteine sind übrigens flache Erinnerungsmahnmale, die in Wien vor vielen Häusern in den Boden eingearbeitet sind, aus denen unter den Nazis Juden deportiert wurden. Auf einem Stolperstein steht je ein Name einer deportierten und ermordeten Personen, die in diesem Haus gelebt hat. Ich weiß nicht, ob man auch in der Schweiz etwas mit diesem Begriff anfangen kann, ohne Erklärung.]
Irmi Wyskovsky sagt
27.11.2020 19:44
es geht weiter, ja. und danke fürs Einlassen auf den Traum.
In der Nacht, nach der ich diesen Text geschrieben habe, hatte ich übrigens einen Traum von einem luziden Traum.