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beitrag von: Magnolija

Gehen-Bekenntnis

Gehen-Bekenntnis
Seit Jahren geht sie… zu Fuß. „Wohin werden Sie heute marschieren?“, fragt sie die neugierige Nachbarin, diese Frau-am-Fenster, die nach Observierung durstet. „Haben Sie auch bei dem Wetter gewandert?“, fragt sie an stürmischen Tagen, um ironisch festzustellen: „Grandios!“
Man hat der Fußgängerin erzählt, dass, als sie ganz kleines Kind war, nach den ersten Schritten das Gleichgewicht verloren hatte und hingefallen war. Danach hatte sie, ein ganzes Jahr, als ein kleiner Buddha reglos dagesessen, eigene Melodien erfunden, mit denen sie, vor sich hin trällernd, sich selbst einlullte… Deswegen so erbittert muss sie jetzt das Gehen nachholen. Das Gehen ist zu Leidenschaft geworden, nachdem sie die Männer und das Rauchen aufgegeben hat. Deswegen ist ihr Gehen erotisch (ihr Körper emp-fängt die Männerblicke aus den Autos – lüstern, traurig und fragend), aber sie geht berauscht weiter, ganz pervers nicht anhaltend. Und deswegen ist ihr Gehen transzendent – währenddessen folgt sie der inneren Stimme, sie sucht karge und starke Worte in einer ihr fremden Sprache, sie wagt in dieser Sprache zu dichten, indem sie einfach den Rhythmus ihres eigenen Gangs nachahmt:
Im vorherigen
Leben
war ich
kleine Japanerin:
Mit flatternder Seele
und trippelnden Schritten.
Ich kochte 5 Mal pro Tag,
war bewandert
im Ikebana,
und schrieb
zimperlich
Kirschengedichte…
Mit diesen Zeilen kommt sie aus dem Park, der so viele Mulden und Anhöhen hat, heraus und begeht die laute Straße unten: Sie verabschiedet sich mit den wilden Blumen, mit der korallen-orangen Hagebutte, mit dem plötzlichen Eichhörnchen, mit dem Glockenturm ihrer Lieblingskirche im Nebel… Nun ist sie eine unmerkliche Passantin, nicht selten von den Leuten gestoßen, die Männer erweisen sich als nicht galant, sie starren auf ihren Handys an, jede Säule, jede Hausmauer, jede Haltestelle ist mit Pflückgedichten von Helmut Seethaler beklebt (Immer gehen wir die gleichen Wege, / immer denken wir das Ein-und-Selbe). Sie liest im Gehen und denkt immer wieder an die unver-gängliche Schreibwut, die auch dieses entlegene Viertel besetzt hat, obwohl auch harmlos, wie die Wahlplakate, die manchmal mehr poetisch wirken…
Sie geht weiter. Wohin? Das Gehen rechtfertigt jedes Ziel, sie ist von den eigenen Schritten beschwipst. Sie fühlt sich vollendet. Dann setzt sie auch diesem Text ein Ende: Auch diesmal sind Einklänge aufgetaucht. Der Text ist im Gehen entstanden.

Bisera Dakova

review von: peter rosei

ja, das gefällt mir. das kommt so leicht daher, und doch ist was dran.

viele kleine schlampereien, z. B. ... fragt die neugierige nachbarin (ohne sie) ... dürstet statt durstet ... verabschiedet sich von ... unmerkliche passantin = unauffällige ... mehr poetisch = poetischer

würden den text bloß GEHEN nennen.