tausend tränen tief
wenn katharsis schon nicht klappt, rührung geht immer.
lectures | lesungen | performances | musik
14. und 15. oktober 2016, jeweils ab 18.00 uhr
festival der schule für dichtung in kooperation mit dem literaturhaus wien
tausend tränen tief
– wenn katharsis schon nicht klappt, rührung geht immer
ein festival der schule für dichtung (sfd)
in kooperation mit dem literaturhaus wien
fr, 14. oktober und sa, 15. oktober 2016
lectures | lesungen | performances | musik
seit pierre bourdieu wissen wir, dass es die “kleinen unterschiede” sind, die soziale hierarchien erzeugen: vergossene tränen ob einer tragödie zeugen von der sittlichen größe des erschütterten, ein tränenfluß aus sentimentaler rührung hingegen wird oft als mangelnde selbstkontrolle denunziert. sogar im schmerz gilt es, fassung zu bewahren. allein die von der eigenen körperlichkeit und vom ich abgehobenen “hehren“ tränen sind gesellschaftlich toleriert, und als selbstverständlich gilt das weinen nur bei begräbnissen: nur der tod adelt den verlust unserer selbstbeherrschung.
selbst die hierarchie der geschlechter zementiert sich bis heute im reich der tränen: ein weinender mann gilt nicht selten noch immer als waschlappen, während eine gewaltige soap-industrie frauen auf affektgesteuerte kitsch-konsumentinnen zu reduzieren trachtet. welche zeitgenössische autorin möchte sich da auch nur in die nähe solcher rührseligkeiten heranschreiben?
zum beispiel junge autorinnen wie leslie jamison oder anneliese mackintosh, die mit – auch – zu herzen gehenden texten gegen das coolness-gebot postmoderner ironie anstinken. dialektisch, versteht sich. denn “ungebrochen” ist auch rührung kaum noch zu haben – alles “konstrukt”, heißt es – auch wenn der kulturwissenschaftler tom lutz noch 1999 in seiner studie tränen vergießen. über die kunst zu weinen darüber klagte, dass sich kein akademisches feld dem studium der tränen widme und es keine lamentologie oder lacrimologie, somit keine wissenschaft der tränen gebe.
eine solche werden wir auch mit unserem festival nicht etablieren können, aber die richtigen fragen stellen und literarische haltungen zur nässenden grenzüberschreitung des körpers vorstellen – das wollen wir schon. denn wie kommt es, dass auch jeder sentimentalität abholde zeitgenossen bei nick cave oder amy winehouse gelegentlich ein tränlein vergießen, dieselben leute aber das literarische erzeugen psychophysiologischer rührungsaffekte verachten? wer oder was ermächtigt die instanzen trotz scheinbarem anything goes, zwischen billigem sentiment und legitimer betroffenheit zu unterscheiden? wie eskapistisch dürfen emotionen sein ohne sogleich unter kitsch-verdacht zu geraten? nur das noch: knapp 200 jahre vor bourdieu schrieb johann gottfried herder: “kunst ist nur dann humanisierend, wenn die evokation von empfindung keine standesschranken kennt”. das möchten wir gern auch heute noch unterschreiben.
programm
14. und 15. oktober 2016
ort: literaturhaus, zieglergasse 26a, 1070 wien
eintritt frei
freitag, 14. oktober 2016
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18.00 uhr
begrüßung: robert huez (literaturhaus wien)
grußworte: thomas drozda (bundesminister für kunst und kultur, verfassung und medien), andreas mailath-pokorny (stadtrat für kultur, wissenschaft und sport, wien)
eröffnung: fritz ostermayer
18.30 uhr
johannes ullmaier (mainz) – lecture
bereits zum dritten mal wird der literaturwissenschaftler unseres vertrauens mit seinem eröffnungsvortrag uns augen und ohren übergehen lassen. am ende werden wir womöglich auch erfahren haben, wie sich die aristotelische katharsis von jammer (éleos) und schrecken (phóbos) in heutigen arzt-tv-serien und splattermovies widerspiegeln. in diesem zusammenhang auch nicht zu verachten: das vielsagende wörtchen “ach” - mit und ohne rufzeichen. da müssen sie nur heinrich von kleist fragen ...
19.30 uhr
anneliese mackintosh (cornwall) – lesung/reading
any other mouth, das im april auf deutsch erschienene short-stories-als-roman-verkleidet-debut der jungen britischen autorin (so bin ich nicht (gretas storys), aufbau 2016), setzt literarisch zwar vor allem auf effekte der überrumpelung via sexueller explizitheit und schamloser selbstentblößung, doch mitten im exzess dieses überwiegend autobiographischen seelenstripteases wird man von großer ergriffenheit heimgesucht. so erging es auch dough johnstone, dem kritiker des independent: “eines der traurigsten und tröstlichsten bücher, die ich seit ewigkeiten gelesen habe. ich musste weinen”. wir haben uns auch nicht zurückgehalten.
(veranstaltung auf englisch.)
any other mouth (german title: so bin ich nicht (gretas storys)), published in german in april and the short-stories-disguised-as-novel-debut of the young british author, in literary terms puts an emphasis on surprise effects via sexual explicitness and shameless self-exposure. However, in the middle of the excess of this primarily autobiographic soul strip one is struck with deep emotion. this also happened to dough johnstone, critic of the independent: “it’s one of the saddest yet most uplifting things I’ve read in ages and it made me cry.” we didn’t contain ourselves, too.
(event in english)
20.30 uhr
jochen distelmeyer (hamburg) – lesung & musik
“in mir, tausend tränen tief, erklingt ein altes lied, es könnte viel bedeuten.
in den tag hinein will es bei dir sein, singt für dich allein von neuen möglichkeiten.”
auf dem blumfeld-album old nobody von 1999 findet sich das unserem festival den namen gebende stück tausend tränen tief. den namensspender daher einzuladen, war uns eine herzensangelegenheit. jochen wird “stellen” aus ihn berührenden büchern und songs lesen und den ersten tag mit eigenem liedgut ausklingen lassen, welches wiederum uns zur rührung gereichen soll. so schließt sich ein schaltkreis der melancholie.
samstag, 15. oktober 2016
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18.00 uhr
daniela strigl/klaus nüchtern/andrea grill (wien) – diskussion und lesung
eine spezial-edition der beliebten kamingesprächsserie tea for three, in der sich die beiden – eigendefinition – “ausgeschlafenen literaturkritiker mit staatlich anerkanntem germanistikabschluss” mit der (schwer)verdaulichkeit “süßlicher” textproduktion herumschlagen werden. und dabei hoffentlich auch unsere neugier auf die frage befriedigen, ob sich nicht auch ein “ausgeschlafener” kritikerkopf gelegentlich sentimentalen ergüssen hingibt. freilich ohne den feigen umweg so genannter “guilty pleasures”.
andrea grill, die dritte im bunde, ist nicht nur autorin, sondern auch biologin: in ihrem großartigen neuen roman das paradies des doktor caspari geht es u.a. um eine schmetterlingsart, die sich ausschließlich von menschlichen tränen ernährt. schon auch tröstlich: unsere spezies ist also doch zu etwas nutze.
19.15 uhr
wolfgang hermann (bregenz) – lesung
wenn die entsetzliche wirkliche wirklichkeit zuschlägt, endet jedes sentiment. wenn der tod eines geliebten menschen text wird, verbietet sich die flapsigkeit unseres festival-untertitels. der vorarlberger autor wolfgang hermann versucht in seinem erschütternden roman abschied ohne ende das unfassbare in ebenso poetische wie präzise worte zu fassen: den tod des eigenen kindes. nur ganz selten schafft es dichtkunst trauer, wut und selbst den körperlichen schmerz des verlustes in ein derart fragiles schönheitsgebilde zu verwandeln, das dem leser zwar immer wieder tränen in die augen treibt, ihn aber gleichzeitig auch auf eine emphatische weise beglückt: seht her, auch gegenwartsliteratur ist zu dergleichen tiefer und wahrhaftiger einfühlsamkeit noch fähig.
20.00 uhr
zuzana husárová (bratislava) – sound-performance
lässt sich rührung allein durch sound generieren? klingt eine knarzende schublade bemitleidenswerter als eine flutschende? ließe sich eine hitparade gramerfüllender klänge erstellen, gar eine musique concrète zum heulen? die experimentelle autorin und soundpoetin zuzana husárová wird sich in einem extra für das festival komponierten/konzipierten stück solch psychophysiologischen aspekten von emotionskunst widmen. ziemlich sicher im gemütvollen soundangebot: babybrabbeln, babyglucksen, babyweinen. zuzana ist kürzlich mutter geworden.
20.30 uhr
schule für dichtung – klasse oliver welter/fritz ostermayer (klagenfurt/wien)/& autorInnen der klasse – musik
“sad, sad song” – so heißt die das festival begleitende klasse der schule für dichtung. einen besseren “klassenvorstand” als oliver welter von der band naked lunch wird man für lektionen in weh- und schwermut hierzulande nicht finden. “klassenziel”: texte und songs produzieren, die dem blöden fröhlichkeitszwang mit geknicktem moll kontern und allen tüchtigkeitsgeboten gegenwärtiger selbstoptimierungskultur nihilistisch hohn sprechen: fuck you, optimists! oder mit melvilles bartleby im chor: “wir möchten lieber nicht”. jedenfalls muss gesungen werden, was das traurige zeug hält. (klasse am 10., 11. und 13.10., info >> sfd.at/sadsadsong)
sfd-autorinnen und-autoren dieser klasse:
manfred bruckner, sidney fröhlich, harald jöllinger, maria muhar, andrea peregrini, blanka pesja, katharina pichler, tino schulter, marion slunsky, julia warner
rückblick 2015: http://sfd.at/festival2015
eine kooperation von schule für dichtung und literaturhaus wien